Sexuelle Übergriffe auf Frauen: Köln kann überall sein
Eine Frau wird beim Joggen von einem Mann überfallen. Der Angriff liegt Jahre zurück, doch Scham und Schuldgefühl bleiben. Die Betroffene erzählt.
Es waren keine Araber, sondern Briten, es passierte auch nicht in Deutschland, sondern in Schottland. Das Wer und Wo spielt aber keine Rolle, wenn es um die jedes Vertrauen erschütternde Erfahrung geht, jemandem ausgeliefert zu sein.
Wenn ich Berichte der Frauen lese und höre, die in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof bedrängt wurden, dann finde ich Gedanken, die mir bekannt sind. Deswegen schreibe ich das hier. Weil es bislang wenig um die belästigten Frauen ging in dieser Diskussion, die sich schnell ausgedehnt hat auf Asyl- und Aufenthaltsrecht, auf Männerbilder und Gesellschaftsstrukturen in weit entfernten Ländern. Es besteht kein Zweifel, dass Männer die Schuldigen sind. Schuldige, die enorm viel Aufmerksamkeit bekommen, während ihre Opfer damit glücklich sein sollen, davongekommen zu sein.
So ein Erlebnis ist nicht vergleichbar. Und ist es doch: wegen der Demütigung – und dem, was daraus folgt.
Es war ein Novembernachmittag vor etwa 15 Jahren, mild und sonnig. Seit zwei Monaten lebte ich als Austauschstudentin in einem Wohnheim in Glasgow, etwa alle zwei Wochen rief ich aus der Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite meine Eltern an. Oft standen am Wochenende die Studenten fürs Telefonieren Schlange, an diesem Tag aber musste ich nicht besonders lange warten. Ich vertelefonierte mein Kleingeld und ging ein paar Schritte zum nahen Kanal, an dessen Ufer sich ein kleiner Weg entlangschlängelte. An diesem Nachmittag war dort ziemlich viel los, Studenten, Pärchen, Hundebesitzer, alle nutzten das schöne Wetter für einen Spaziergang. In etwa war das auch mein Plan: Ich wollte joggen.
Ich lief gerade durch eine Kurve, als ich hinter mir schnelle Schritte hörte
Das Telefonat mit meinen Eltern war nett gewesen, ich hatte viel nachzudenken, lief und lief, bis ich plötzlich merkte, dass ich weiter gelaufen war als je zuvor, Spaziergänger und Hunde hinter mir gelassen hatte und vor mir die Kanalschleusen lagen. Dahinter kannte ich mich nicht mehr gut aus, also drehte ich um.
Ich lief um die erste Kurve, als mir zwei Jugendliche begegneten. Der eine war groß und schlaksig und trug das Trikot eines lokalen Fußballvereins, der andere war eher klein. Sie fragten mich im Vorbeilaufen, ob ich die Uhrzeit wisse. Ich sagte Nein – und rannte weiter.
Ich war nicht die einzige Joggerin am Kanal. Da ich eine verhältnismäßig langsame Läuferin bin, wich ich beim Dritten oder Vierten, der mich überholen wollte, zur Seite aus, ohne mich umzusehen. Ich lief gerade durch eine Kurve, als ich hinter mir wieder schnelle Schritte hörte.
Der Kanal in Glasgow heißt Forth and Clyde Canal, er liegt zum Teil erhöht von der Straße, zu der eine mit hohen Büschen und ein paar Bäumen bewachsene Böschung abfällt. Der Kanal fließt auch durch Maryhill, das Viertel, in dem ich wohnte. Es ist kein gutes. Der schottische Journalist und Krimiautor Craig Robertson schreibt, dass die Fische im trüben Kanalwasser bessere Überlebenschancen haben als die Bewohner an seinen Ufern: „Als Fisch kann man wenigstens nicht als Junkie enden.“
Er sprang mich von hinten an und hielt meine Arme vor der Brust fest
Es gibt in Berlin keine vergleichbare Gegend, am ehesten lässt sich Maryhill noch mit dem Kottbusser Tor vergleichen, auf viele Quadratkilometer ausgefaltet, schmuddelig, aber weitgehend zahnlos. Die Universität lag nicht weit, es gab mehrere Studentenwohnheime mit vielen internationalen Bewohnern und ich fühlte mich wohl. Nach zwei Monaten glaubte ich die Stadt halbwegs zu kennen. Ich verhielt mich vernünftig, war nachts nicht alleine unterwegs, nahm im Zweifel lieber ein Taxi und mied die No-go-Areas.
War ich leichtsinnig, alleine joggen zu gehen? Bis heute sage ich: nein. Denn ich war ja nicht allein an diesem Nachmittag.
Als ich auf die Schritte des Joggers hinter mir achtete, war ich erstaunt. Der Mann – es musste ein Mann sein, das war zu erkennen – lief wirklich sehr schnell. Das wunderte mich, aber ich wich aus in Richtung Böschung. Dann sprang er mich von hinten an, umarmte mich und hielt mir meine Arme vor der Brust fest.
Es wurde viel gelacht über den „Ratschlag“, den die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker Frauen gegeben hat: zum Selbstschutz eine Armlänge Abstand zu halten. Doch beschreibt diese Armlänge ziemlich genau die Entfernung, ab der die Nähe mit Fremden noch okay ist. Es ist wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen, wie brutal sich eine fremde Hand innerhalb dieser Entfernung anfühlt, wenn man es nicht selbst erleben musste.
Ich habe sogar kurz gelacht: "Lass mich los". Aber er ließ nicht los
Zunächst dachte ich an einen schlechten Witz. Ich habe sogar kurz gelacht, so schockiert war ich. Haha, was für ein Schreck, lass mich los. Aber er ließ nicht los. Lass mich los, bitte. Keine Reaktion.
Der Mann schien jung zu sein und war so außer Atem, dass er nicht sprechen konnte. Er hielt mich weiter von hinten fest, sehr fest. Sehen konnte ich ihn nicht. Nur merken, dass er um einiges größer war. Ich bekam Angst. Ich wusste, dass vor mir, vielleicht zweihundert Meter entfernt, ein Ehepaar mit zwei großen Hunden ging. Aber wir standen genau in der Kurve, unsichtbar.
Er drehte mich um und ich erkannte den jungen Mann im Fußballtrikot, der an der Schleuse nach der Uhrzeit gefragt hatte. Seine Wangen waren gerötet. Mit seinen Händen hielt er meine beiden Handgelenke sehr fest umklammert, ich kam nicht los. Auf der einen Seite der Kanal, auf der anderen die Böschung, ich hatte keine Angst mehr, ich hatte Panik.
Psychologen, die auch in diesen Tagen wieder befragt werden, wie Frauen sich in so einer Situation verhalten sollen, sagen häufig Sachen wie: Umstehende ansprechen und auf die Situation aufmerksam machen. Auch an diesem Novembernachmittag gab es einen Umstehenden, ich sah ihn aus dem Augenwinkel. Ein Mann im mittleren Alter, der am unteren Ende der Böschung auf einem Parkplatz stand und durch die dünnen Zweige der Büsche hindurch beobachtete, was mit mir geschah. Und nichts tat. Ich habe oft überlegt, warum er nicht eingegriffen hat, ein paar Schritte und er wäre er bei mir gewesen. Tatsächlich habe ich ihn in Gedanken dann entschuldigt: Wir, die am Ufer des Kanals rangen, trugen beide Sportklamotten und waren in etwa gleich alt. Vielleicht dachte er, wir gehören zusammen und es ist nur ein blöder Streit.
So habe ich mich nie wieder schreien hören
Psychologen sagen auch: Die Frau muss eine eindeutige Botschaft senden. Schon klar. Aber was, wenn diese Botschaft nicht ankommt? Ich schaute in die Augen eines Kerls, dessen Pupillen groß wie Murmeln waren, dem es egal war, dass ich schrie, wie ich mich danach nie wieder habe schreien hören. Der meine Handgelenke nun in seiner großen Hand zusammenquetschte und mir mit der anderen zwischen die Beine griff. Hinter ihm tauchte sein Freund auf und applaudierte.
Viele Freundinnen haben mich später gefragt, warum ich nicht wenigstens getreten habe, gespuckt und gekratzt. Fragen, die ich mir auch gestellt habe. Die Antwort darauf ist nicht leicht. Ich war nie ein ängstlicher Mensch, kenne mich als überlegt handelnd, selbst wenn es brenzlig wird. Außerdem bin ich mit Brüdern aufgewachsen, will heißen: Ich kann mich prügeln. Nur nicht in dem Moment, als ich meinem Angreifer ins Gesicht sah und begriff, dass ich starr vor Angst und absolut wehrlos bin. Und dass meine Gegenwehr möglicherweise nur noch mehr Gewalt provozieren würde.
Aber warum hast du denn nicht ...?
In einem Magazin empfiehlt eine Expertin Selbstverteidigungskurse für Frauen. Die Nachfrage nach Pfefferspray soll nach den Vorfällen in der Silvesternacht so groß sein, dass Lieferengpässe drohen. Und je mehr über vermeintliche Bedrohungen geredet wird, desto dunkler werden die nächtlichen Heimwege.
Auch ich bin davongekommen. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn vielleicht doch getreten habe, jedenfalls lockerte sich irgendwann sein Griff und ich rannte los. Rannte um zwei Kurven, vorbei an dem Ehepaar mit den Hunden, hinein in mein WG-Zimmer im Wohnheim, wo ich heiß duschen ging und dann schlafen.
Am Abend erzählte ich einem Mitbewohner von dem Erlebnis und er überzeugte mich davon, Anzeige zu erstatten. Kurz darauf saßen zwei Polizisten bei uns in der Küche und ich erzählte. Sie nahmen schließlich meine Jacke mit, um mögliche Spuren daran zu finden. Ich hörte nie wieder von ihnen.
Zwei Monate lang dachte ich, das Erlebnis unbeschadet überstanden zu haben. Dann bekam ich Angst. Immer öfter fuhr ich Taxi, ließ mich von meinen Mitbewohnern vom Bus abholen oder bat sie, Partys nicht ohne mich zu verlassen. Ein Freund schenkte mir Pfefferspray, dass ich immer in meiner rechten Jackentasche trug. Je nachdem, durch welche Straße ich ging, hielt ich es umklammert. Ich übte, es in Millisekundenschnelle aus der Tasche zu ziehen, und hoffte, dass ich tatsächlich den Mut haben würde, es jemandem ins Gesicht zu sprühen. Ich vertraute den Unbekannten um mich herum nicht mehr, auch das Vertrauen in meine eigene Wehrhaftigkeit hatte ich verloren.
Deshalb fühle ich mich manchmal noch immer schuldig. Weil ich es nicht geschafft habe, dem Kerl zu zeigen, was für ein Arschloch er ist. Weil ich das mit mir habe machen lassen (weshalb ich diesen Text auch unter Pseudonym schreibe).
Bis heute werde ich unruhig, wenn ich schnelle Schritte hinter mir höre. Ich bin nicht mehr ängstlich, aber vorsichtig geworden. Bei mir gibt es nachts keine Abkürzung durch den Park. Meine Freundinnen fahre ich gerne nach einer Party mit dem Auto bis vor die Haustür.
Es ist paradox, dass wir Frauen offenbar die Einzigen sein sollen, die etwas gegen sexuelle Belästigung unternehmen können. Indem wir unsere eigene Freiheit beschneiden. Nach Köln werden es viele Frauen so handhaben. Und sich vielleicht genauso schuldig fühlen wie ich.
Svenja Richter