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Die Schrecken und die Schönheit der Finsternis: Anne Tismer spielt Texte von Samuel Beckett zum Auftakt der Dercon-Volksbühnen-Intendanz.
© Wolfgang Kumm/dpa

Erste Spielzeit unter Dercon: So lief der Auftakt der neuen Volksbühne

Verschlossener Beginn: Der neue Intendant Chris Dercon eröffnet seine Volksbühne mit Beckett-Einaktern und Luftnummern von Tino Sehgal.

Nun war es so weit. Die Volksbühne eröffnet eine neue Spielzeit, eine neue Zeit. Für viele ist es noch immer ein Abschied mit Untergangsfantasien – was auch sehr lustvoll sein kann. Und lebendiger vielleicht als das, was von den so bitter angefeindeten Nachfolgern zum Auftakt angeboten wird. Ist der Theaterkrieg jetzt endlich aus?
Berlin im November. Das Maxim Gorki Theater lässt am Brandenburger Tor ein Bus-Mahnmal aufstellen, nicht gegen wild grassierenden Tourismus, sondern zur Erinnerung an den Bürgerkrieg in Syrien. Unter den Linden stellt das Gorki für seinen „Herbstsalon“ den alten „OST“-Schriftzug auf, der so lange auf dem Dach der Volksbühne prangte, und übernimmt erst mal die Vorkämpferrolle, die früher Frank Castorfs Haus gespielt hat. Indessen probt der befreite und/oder vertriebene Fidel Castro vom Rosa-Luxemburg-Platz im Berliner-Ensemble-Exil „Les Misérables“, Barrikadenkämpfe und Gerechtigkeitsdiskurse. Alles geht weiter irgendwie.

Nur in der Volksbühne selbst scheint an diesem ersten Abend der Chris-Dercon-Intendanz die Zeit stillzustehen. An den leider viel zu knappen Theatertheken gibt es nach wie vor die Volksbühnen-Boulette, am besten als Beilage zum Senf. Und keine Bestuhlung zu Beginn im Zuschauerraum. Man kennt das. So war es zuletzt auch bei Castorf, wenn man Pech hatte. Zuschauer machen Bodenübungen. Hintern schmerzt. Das Entscheidende bei diesem ersten Traditionseindruck ist aber: Schon wieder und noch immer wird hier Zeit totgeschlagen. Ist man in Raumexperimenten eingeschlossen, was viele Besucher ja auch genießen. Die Volksbühne als Zeitauflösungs- und Zerbröselungsmaschine. Daran hat sich offenbar wenig geändert. Oder positiv ausgedrückt: Die Volksbühne als unvergleichliches Zeiterlebnis, als ihr eigenes Raumgesetz. Bei Chris Dercon wird Kontinuität gepflegt. Wieder andere nennen es Langeweile. Mit einem Unterschied allerdings. Bei Castorf hatte ein Akteur nach drei, vier oder fünf Stunden manchmal eine Art Epiphanie. Dann passierte Unerwartetes, riss sich das Ensemble aus dem kollektiven Dämmer oder legte, nach stundenlangem Geschrei, noch einmal einen Gang zu oder zwei. Das steckt in den Wänden. Theater hat ein Elefantengedächtnis. Vor Beginn der Vorstellung fahren zwei Mannschaftswagen der Polizei auf. Man weiß ja nie. Möglicherweise ist wieder eine Besetzung der Volksbühne im Busch, sind Störungen geplant. Es bleibt ruhig. Nach all den Hasstiraden, Grabenkämpfen, Rückzugsgefechten und kulturpolitischen Arrogantheiten von Tim Renner bis Klaus Lederer erlebt die Volksbühne an diesem Freitagabend eine Implosion. Als sei alle Energie im Volksbühnenkampf verpufft, bevor es überhaupt losgeht.

Es beginnt verheißungsvoll mit treibenden Beats...

„Samuel Beckett/Tino Sehgal“. Der radikale Dramatiker, 1989 gestorbene Klassiker der Moderne und der 1976 geborene Anti-Choreograf werden in einen Dialog gezwungen. Es hat etwas Programmatisches. Dercons Volksbühne will das Elementare freilegen. Wort, Bewegung. Sprache und Tanz. Das könnte wohltun nach den ideologischen Gewittern der letzten fünfundzwanzig Jahre. Sich besinnen, innehalten, warum nicht in diesen Zeiten?

Und es beginnt verheißungsvoll. Treibende Beats, eine fordernde Melodieschleife, anschwellende Lautstärke im Foyer und dann hinein in den großen, herrlichen Theaterraum, während die Musik an Intensität zunimmt; ein Intro wie zu einem Diskurs von René Pollesch. Der hat sich an der Volksbühne ja auch ausgiebig mit dem Theaterbetrieb und Wahrnehmungstheorien beschäftigt. Erwartung baut sich auf. Sie ist ohnehin ausreichend vorhanden an diesem Freitagabend, den viele als Moment der Wahrheit empfinden. Auf der Bühne bewegt sich die Maschinerie. Scheinwerfer blenden ins Publikum. Hubpodien fahren hoch und runter. Die Technik lässt die Muskeln spielen. Und dann – ist es vorbei, und man trollt sich ins Foyer. Das war ein neues Werk von Tino Sehgal. Besser: eine Idee. Sehgal sucht das Immaterielle, er lässt sich nicht packen. Er reduziert, bis da weniger ist als nichts. Vielleicht war das auch nie etwas. Es fällt schwer, die Namen Beckett und Sehgal in einem Satz zu nennen. Nur kurz: Beckett schält einen Kern heraus, Sehgal ventiliert die Luft. Zum Volksbühneneinstand bringt er alte Nummern. Kaum Neues.

Auf einer Theaterbühne wirken Sehgals Exerzitien anämisch. Sie kommen aus Galerie- und Museumszusammenhängen, waren in Berlin im Gropius-Bau zum Teil schon zu sehen. Als Ausstellungsperformance mag es funktionieren, aber auf einer so großen und mächtigen Bühne wie der am Luxemburg-Platz zerplatzt diese Arbeit wie Seifenblasen. Sehgals Spieler rennen, summen, singen, sprechen die Zuschauer an, als Interakteure. Es wirkt wie eine Sektenveranstaltung. Es ist ein mittelgroßer Bluff. Man ist unangenehm berührt, doch auch ungern schroff zu diesen Menschen, die ein seltsames Leuchten in den Augen haben.

...ist schlussendlich aber eher eine Late Modern als eine Tate Modern

Was für ein Kontrast – Beckett! Drei kurze Stücke, Monologe in tiefschwarzer Dunkelheit machen nun auch nicht gerade froh. Sind nicht unbedingt gedacht für die Einladung in ein neues Haus. Aber die von Walter Asmus inszenierte Trilogie des Nimmerwiedersehens ist das, was im Gedächtnis bleibt von dieser sonderbaren Veranstaltung in einem leeren Theater.

Wie eine griechische Statue taucht Anne Tismer in der Finsternis auf. Es ist das mittlere Stück, „Tritte“. Ein unausgetragenes Mutter-Tochter-Drama. Stimmen im Kopf, wie oft bei Beckett. Jetzt ist Anne Tismer stark und präsent in ihrer geisterhaften Erscheinung und auch besser zu verstehen als in dem hektisch vorgetragenen „Nicht Ich“. Da spricht nur ein roter Mund in die schwarze Welt hinein. Eine Ikone des experimentellen Theaters, anno 1972. Becketts Universum pulsiert vor Stille, Menschen glühen auf in der Erinnerung. Wie in „He, Joe“. Der dänische Schauspieler Morten Grunwald (ja, der von der Olsen-Bande) sitzt da allein, eine Randfigur, deren Gesicht riesig vergrößert auf einem Gaze-Vorhang erscheint. Die Stimme der Frau kommt aus dem Off. Man sieht ihm beim Zuhören zu. Wie ein Redesturm über eine verwitterte Gesichtslandschaft fegt. Der Mann ist zum Schweigen verdammt, oder er zieht es vor, nichts zu sagen. Weil es nichts mehr zu sagen gibt. Beckett schrieb „He, Joe“ 1966 als Fernsehspiel. Es gibt in seinem Werk so viele Alte, die noch etwas loswerden wollen vor dem Abgang. Eine Begegnung mit Beckett hat etwas Reinigendes, sein Humor kann jede falsche und aufgesetzte Dramatik wegfegen. Nur eben nicht in diesen drei Kleinstakten. Sie sind geschrieben für die Letzten, die das Licht ausmachen. Walter Asmus zieht das klar und konsequent durch. Anne Tismer ist die einzige Schauspielerin bei dieser Einweihung, die spricht und sich bewegt. Sie hat Mut.

Dann wird die große, schmale Beckett-Bühne herausgefahren, und es übernimmt wieder die Sehgal-Truppe das Kommando, mischt sich unter das Publikum. Jetzt kommunizieren! Das sind zu dünne Bretter. Das ist zu wenig, zu defensiv als Gesamtauftritt. Eher eine Late Modern als eine Tate Modern. Die Volksbühne hat schon so viel Gestern. Und draußen im Regen frieren die Polizisten.

„Beckett/Sehgal“ noch einmal an diesem Sonntag. Die Beckett-Stücke laufen dann am 18. und 28. 11., 21. und 28. 12.

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