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Die Kammerspiele in München sind das "Theater des Jahres".
© Tobias Hase/dpa

Theater des Jahres 2019: Kammerspiele München ausgezeichnet

Die von Matthias Lilienthal geleiteten Kammerspiele sind das „Theater des Jahres“. Auch die beste Inszenierung kommt aus der bayrischen Landeshauptstadt.

„Was lange währt, wird endlich gut!“, lässt sich ein euphorischer Matthias Lilienthal per Pressemitteilung aus dem Süden der Republik vernehmen. Und versichert, diesen Erfolg nun gebührend „mit allen Mitarbeiter*innen und der Kammerspiele und den Münchner*innen“ zu feiern. Partytime an der Maximilianstraße. Der Anlass der Ausgelassenheit? In der alljährlichen Kritikerumfrage des Magazins Theater heute sind Lilienthals Kammerspiele zum „Theater des Jahres“ gewählt worden. Mit satter Mehrheit von elf Stimmen bei insgesamt 44 Voten.

Über diese Auszeichnung freuen sich Bühnen immer, aber der Fall der Kammerspiele ist natürlich noch mal besonders gelagert. Der zuvor als Leiter des HAU erfolgsverwöhnte Lilienthal hat in der bajuwarischen Landeshauptstadt ja einen ziemlichen Stolperstart hingelegt, inklusive Kündigungen prominenter Ensemblemitglieder und einer medial befeuerten Debatte, ob dem Haus ein Performance-Overkill drohe. Auf eine CSU-betriebene General- Infragestellung der Lilienthalschen Regentschaft reagierte der Intendant im Frühjahr 2018 mit der Nichtverlängerung seines Fünf-Jahres-Vertrags, die kommende Spielzeit wird seine letzte an den Kammerspielen sein.

Just wo das Ende absehbar ist, scheint sich München mit ihm versöhnt zu haben. Schon im Vorfeld des diesjährigen Theatertreffens war ein sonniger Matthias Lilienthal im Gespräch mit dem Tagesspiegel zu erleben, der von wachsender Akzeptanz seines Programms schwärmte und mutmaßte: „Vielleicht bin ich manchmal der kleine Rammbock, der die Tür erst mal einen halben Meter aufstoßen muss“. Im Jahrbuch von „Theater heute“ – das den Titel „Künstlerpositionen“ (Der Theaterverlag, Friedrich Berlin, 184 S., 35 €) trägt – legt der kleine Rammbock jetzt noch mal nach und berichtet, dass Menschen in München „es allmählich eher vermissen, wenn auf der Bühne nicht Arabisch oder Englisch gesprochen wird“. Der späte Sieg der Weltoffenheit über die Krustenbraten-Mentalität.

Schon andere Intendanten haben Liebe erst im Angesicht ihres nahenden Abschieds erfahren, Tom Stromberg könnte ein entsprechendes Lied über seine Zeit am Hamburger Schauspielhaus singen. Aber klar lässt sich das Voting der Kritikerinnen und Kritiker für die Kammerspiele nicht nur als Abschiedsgeschenk interpretieren. Die Frage ist ja, welches Haus sonst sich mit seiner „Gesamtleistung der Saison“ aufgedrängt hätte? In den aufregendsten Theaterzeiten leben wir gerade nicht.

Sandra Hüller ist "Schauspielerin des Jahres"

Wie groß die Sehnsucht nach Spektakel ist, zeigt auch die Wahl der „Inszenierung des Jahres“ – sie fiel, mit 14 Stimmen, auf Christopher Rüpings zehnstündiges Antikenprojekt „Dionysos Stadt“, entstanden wiederum an den Münchner Kammerspielen und bereits zum Theatertreffen eingeladen. Unbestreitbar ein Happening. Lustige Randnotiz: Im gemeinschaftlichen Gespräch mit den Ensemblemitgliedern Nils Kahnwald und Gro Swantje Kohlhof – die zum „Schauspieler des Jahres“ und zur „Nachwuchsschauspielerin des Jahres“ gewählt wurden – berichtet Regisseur Rüping, dass an den Kammerspielen weiterhin „oft vor halbleeren Sälen“ gespielt werde. Das müssen die Produktionen sein, in denen weder Englisch noch Arabisch gesprochen wird.

Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele.
Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele.
© Peter Kneffel/dpa

Menschen hinter einem stringenten Narrativ zu versammeln, ist heute eben eine der komplexeren Aufgaben. Davon kündet das gesamte Theater-heute-Jahrbuch mit seinen „Künstlerpositionen“. Theatermenschen wie Monika Gintersdorfer, Charlie Hübner, Barbara Frey oder Stefanie Carp verbeugen sich da jeweils vor geschätzten Malern, Schlagzeugern oder Filmemachern. Klar, die künstlerische Einzelleistung ist immer feiernswert. Siehe auch die großartige Sandra Hüller, die es mit ihrer „Penthesilea“-Performance in Johan Simons’ entsprechender Kleist-Inszenierung zur „Schauspielerin des Jahres“ gebracht hat.

"Schnee Weiß" von Elfriede Jelinek ist das "Stück des Jahres"

Aber bezeichnend ist es doch, dass sich im Getöse der Gleichzeitigkeit von Klimakatastrophe, Rechtspopulismus und Europakrise nebst drohendem Klopapier-Engpass in Großbritannien kein gesellschaftspolitisches Thema mit Theater-Resonanz mehr aufzudrängen scheint.

Klar, die Trump-Stücke gab es mittlerweile alle schon. Elfriede Jelinek, die verlässlichste Seismografin der ausgreifenden Gemütserschütterungen, hat sich unterdessen der MeToo-Debatte zugewandt. In „Schnee Weiß“ – dem „Stück des Jahres“, das sich knapp vor Ferdinand Schmalz’ „der tempelherr“ und PeterLichts Molière-Überschreibung „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ durchsetzte – hebt sie vom österreichischen Skisport ins Patriarchat ab, dem sie das Attest ausstellt: Was lange währt, bleibt fürchterlich.

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