Matthias Lilienthal im Gespräch: „Ich habe eine sentimentale Beziehung zum Theatertreffen“
Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, war schon oft beim Berliner Theatertreffen. Im Interview regt er ein europäisches Festival an.
Herr Lilienthal, welche Bedeutung hat das Theatertreffen für Sie? Wenn wir richtig gezählt haben, waren Sie schon mit Basel, der Volksbühne, dem HAU und den Münchner Kammerspielen eingeladen.
Und mit Theater der Welt. Ich habe eine sentimentale Beziehung zum Theatertreffen, weil ich mir schon mit 14 Jahren dort die großen Gastspiele reingezogen habe. „Faust“ von Peymann-Freyer zum Beispiel, aus Stuttgart. Da habe ich mich reingeschummelt. Thorsten Maß hat mich rausgeschmissen, und Peymann hat mich wieder reingelassen. Das Theatertreffen war damals eine willkommene Erweiterung der Seherfahrung in diesem doch ziemlich kleinkarierten West-Berlin.
Und heute?
Ist ein Zuspruch von außen in Form dieser Einladung für mich als Intendant der Münchner Kammerspiele wichtig. Das Theatertreffen ist ja auch in einem Veränderungsprozess begriffen. Bis vor sechs oder sieben Jahren wurde es von einem ziemlich geschlossenen Zirkel an Zuschauerschaft getragen. Inzwischen gibt es eine Öffnung, auch beim Stückemarkt.
Geht die Öffnung weit genug? Das Theatertreffen wird auch in diesem Jahr als reichlich weiße, wenig diverse Veranstaltung kritisiert. Im vergangen Jahr waren die Kammerspiele zwar mit der Schwarzkopie von „Mittelreich“ eingeladen. Aber was müsste sich strukturell ändern?
Es ist an den Häusern, die Spielpläne diverser aufzustellen. Wir machen nächste Spielzeit zwei Arbeiten mit Anta Helena Recke. Wir arbeiten an den Kammerspielen mit Regisseur*innen aus dem Iran, Libanon, Japan, Argentinien, Israel. Das Theatertreffen hat vielen jungen Regisseurinnen und Regisseuren geholfen, ihre Ästhetik durchzusetzen. Solche Prozesse kann es beschleunigen. Und in bestimmten Fällen eine Wertschätzung herstellen, die es sonst vielleicht nie gegeben hätte.
Ist das immer noch so?
Die Karriere von Ersan Mondtag oder der Weg von Christopher Rüping sprechen dafür. Vielleicht nicht in den Beschäftigungsmöglichkeiten dieser Regisseure, aber in der überregionalen Aufmerksamkeit schon.
Das Theatertreffen, überhaupt die Berliner Festspiele sind Institutionen, die in einer anderen Zeit, in einer anderen Stadt entstanden sind. Wie zeitgemäß sind sie noch?
Natürlich kann man fragen, ob neben dem deutschsprachigen Theatertreffen nicht auch ein europäisches Festival sinnvoll und zeitgemäß wäre. Wenn man es jetzt als Bundesliga begreift, sollte es nicht eine Art Champions League geben? München hat jetzt mit fünfeinhalb Stunden eine relativ schnelle Zugverbindung nach Paris, wodurch ich mehr vom Programm des Théâtre de l'Odéon mitkriege. Eine Setzung, die klar in Berlin fehlt, ist eine Bühne, die große europäische Aufführungen in einer Art Dauerbetrieb zeigt.
Was es in Ansätzen bei den Berliner Festspielen schon gab. Sollte man das wieder aufgreifen?
Die Frage ist doch schlicht, welche Konzepte zu welcher Zeit richtig sind. In einem Moment, in dem Europa gefährdet ist, kann man die Idee für sehr richtig halten. Auf der anderen Seite erlöst einen das nicht aus der Frage, ob das eine Veranstaltung weißer Männer ist.
Aber in Frankreich zum Beispiel existiert eine diversere Gesellschaft als in Deutschland. Das spiegelt sich doch auch in den Produktionen wider.
Wobei die Berliner Theater und auch die Münchner Kammerspiele in Fragen von Diversität nicht so schlecht aufgestellt sind. Da polemisiere ich gern, dass das New Yorker Theater nicht diverser aussieht. Aber auf der Ebene eines internationalen Festivals ist in der Berliner Szene durchaus noch Platz.
Ist das jetzt eine Bewerbung?
Nein, ich habe doch Jobs. Ich mache die Kammerspiele zu Ende, dann kuratiere ich den Performance-Teil des „Home Works“-Festivals in Beirut im November 2021 und danach gucke ich mal fröhlich in die Welt.
Wie geht es in München an den Kammerspielen nach Ihnen weiter?
Ich habe in meinem Leben schon oft Sechs-Quadratmeter-Büros mit Barbara Mundel geteilt. Die Entscheidung des Münchner Kulturreferenten, sie zu meiner Nachfolgerin zu machen, signalisiert doch, auf eine bestimmte Kontinuität zu setzen. Vielleicht bin ich manchmal der kleine Rammbock, der die Tür erst mal einen halben Meter aufstoßen muss. Sieben Jahre, die ich dann in München gearbeitet haben werde, sind für mich eine lange Lebensspanne. Theater leiden oft eher darunter, dass bestimmte Direktoren zu lange bleiben. Zu denen wollte ich noch nie gehören. Am HAU habe ich immer Drei-Jahres-Verträge gemacht.
Sind neun Jahre Intendanz die Grenze?
Die Städte Berlin und München funktionieren in der Frage total gegensätzlich. München hat ein ausgesprochenes bayerisches Anfangsgranteln, das kriegt man erst mal drei Jahre lang ab. Wenn man dann ins Herz geschlossen wird, darf man auch 23 Jahre bleiben. In Berlin ist die Dynamik eher so, dass es eine Anfangsneugier gibt, bis auf den einen großen Ausnahmefall ...
Chris Dercon und die Volksbühne ...
... aber nach sieben Jahren spätestens kommt die Frage: Was sucht diese blöde Fresse hier immer noch?
In München haben Sie zum ersten Mal den Schlusspunkt nicht selbst bestimmt.
An der Volksbühne auch nicht. Ich habe gekündigt, das stimmt, aber der Kollege Castorf hat davor den Satz gesagt: Dass es dem Theater so schlecht geht, das liegt nur an einem, nämlich an dir. Darauf habe ich geantwortet, Frank, du bist ein glücklicher Mensch, dir kann geholfen werden. Im Ernst, ich bin ihm für diesen Satz unendlich dankbar. Weil es mich danach einfach in die nächste Umlaufbahn geschossen hat.
Worin unterscheiden sich Berlin und München noch?
Die soziale Situation, in der Menschen leben, ist eine völlig andere. Wobei Teile Berlins ja mittlerweile deutlich münchnerisiert sind. München besteht eigentlich nur aus Ober- und aus Mittelschicht. Oder aus Menschen, die zur Mitte gehören wollen. Das ist in Berlin sozial und subkulturmäßig viel durcheinandergeworfener.
War die Reaktion auf Castorfs Nachfolger auch eine Abwehr: Wir wollen München und London hier nicht haben?
Mitte und die Rosa-Luxemburg-Straße standen zentral für eine bestimmte ostdeutsche Identität. Das haben wir ja bewusst forciert, daraus ist in den 90ern ein Gutteil der Polemik des Hauses entstanden. Und plötzlich wacht man in Mitte auf, und alle reden nur noch Englisch. Natürlich führt das zum Clash.
Wird nicht auch deshalb viel Englisch geredet, weil die Volksbühne so ein cooles Ding durchgezogen hat?
Sie meinen, wir waren die Gentrifizierer, die daran schuld waren?
Kunst ist doch immer Teil dieses Prozesses.
Klar, wir waren am HAU Teil eines Gentrifzierungsprozesses von Kreuzberg. Und an der Volksbühne von Mitte. Aber ehrlich gesagt genieße ich die Internationalisierung der Stadt Berlin über weite Strecken, ich brauche diese alte deutsche Enge nicht mehr.
Enge bietet auch Reibungsflächen. In München wird darüber gestritten, wie politisch Sie sich als Intendant äußern dürfen.
Ein Intendanzbüro quasi umzufunktionieren in eine Zentrale zur Organisation von Demonstrationen in der Stadt, das ist doch lustig. Das habe ich weder am HAU noch an der Volksbühne gemacht. Die Reibung entzündete sich daran, dass wir als Kammerspiele mit zur Demonstration „Ausgehetzt“ aufgerufen hatten. Woraufhin der Fraktionsvorsitzende der Münchner CSU dem Oberbürgermeister schrieb, seine Partei verbiete den Kammerspiele das Demonstrieren. Selbst Vertreter des Schwabinger Bürgertums, denen vielleicht She She Pop auf der großen Bühne auf die Nerven gegangen war, haben daraufhin gesagt: So geht's jetzt aber auch nicht.
Klingt nach munterer Anekdote.
Überhaupt nicht. Es sind neue politische Fronten, die sich da auftun. Wir kapieren momentan überhaupt nicht, in was für einer anderen Art von Gesellschaft wir leben. Diese Rechts-links-Schemata, auch die Rolle von Theatern, definieren sich nicht mehr wie in den 70er oder 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Was ist denn dann die Rolle des Theaters jetzt?
Da halte ich es nach wie vor mit Dirk Baecker und sage: Es ist ein Labor für die Erprobung urbaner Lebensformen. Aber die Form dafür muss man immer wieder neu zu bestimmen versuchen.
Sie haben sich mit einem 24-stündigen Projekt aus Berlin verabschiedet, „Unendlicher Spaß“ am HAU. Jetzt gastieren die Kammerspiele mit Christopher Rüpings zehnstündigem Antikenprojekt „Dionysos Stadt“ beim Theatertreffen. Worin liegt der Reiz der Überlänge?
Ich finde, Theater sollte entweder eine Stunde dauern oder 24 Stunden. Möglichst nichts in der Mitte. Wir hatten am HAU zu 80 Prozent eher einstündige Arbeiten. Natürlich sind zehn oder 24 Stunden eine vollständig andere Erfahrung. Christopher hat gesagt, er braucht zwei Stunden, um die Gesetze der Antike überhaupt erst mal hochzuwuchten – um sich dann dazu verhalten zu können. Hoffen wir mal, dass wir das Ding anständig herschaffen können.
„Dionysos Stadt“: 11. Mai, 14 – 23.30 Uhr und 12. Mai., 13 – 22.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.