Autorentage am Deutschen Theater: Mitwisser im Schneehasenkostüm
Ein #MeToo-Stück von Elfriede Jelinek, Internetaffines von der spannenden jungen Autorin Enis Maci. Die Autorentage am Deutschen Theater im Überblick.
Eine der beliebtesten Sportarten im Kulturbetrieb ist die Trendjagd nebst Siegerausrufung: Hier die neueste Formensprache, da der letzte Kostümschrei, dort die gesellschaftspolitischste Relevanzoffensive – ein Hit gerade auch unter Kritikerinnen und Kritikern. Am interessantesten wird die Kunst trotzdem meist dort, wo sie die Scouts mit Perspektivenreichtum, Themenfülle und Stil-Crossover überfordert. Wenn sich der augenfälligste Trend in der neuesten Theaterliteratur also dergestalt zusammenfassen lässt, dass es keinen gibt, ist das definitiv eine gute Nachricht.
Schaut man sich etwa die Auswahl der Mülheimer Theatertage an, die jährlich die bemerkenswertesten neuen Stücke der Saison präsentieren und zurzeit gerade in 44. Auflage in der Ruhrstadt laufen, stößt man einerseits auf randständige Zeitgenossinnen wie die suizidale Putzfrau Jennifer. Die wirbelt in Clemens J. Setz’ Stück „Die Abweichungen“ noch posthum das Leben ihrer Auftraggeber durcheinander, weil sie von sämtlichen Wohnungen, in denen sie reinigend zugange war, Miniaturmodelle angefertigt und jeweils fiese kleine Detailveränderungen vorgenommen hat.
Neben solchen seltenen Tragödien-Trigger-Talenten tummeln sich in der Gegenwartsdramatik natürlich auch anschlussfähige Durchschnittsauratiker, die sich an künstlichen Intelligenzen abarbeiten, wie in Sibylle Bergs sarkastischer Dystopie „Wonderland Ave“. Und es gibt Stücke, in denen die Festung Europa höchstselbst in Erscheinung tritt; bei Wolfram Höll zum Beispiel als „Disko“ mit gestrengem Türsteher. Auch stilistisch lassen sich die nach Mülheim eingeladenen Autorinnen und Autoren nicht kategorisieren: Vom well-made play, dem klassischen Dialogstück, bis zur berüchtigten Textfläche, die ohne klar identifizierbare Figuren eher so etwas wie Bewusstseinsströme produziert, ist alles vertreten. Das Stücke-Festival an der Ruhr geht am Wochenende mit der Vergabe des renommierten Dramatikerpreises zu Ende.
Einige der interessantesten neuen Theatertexte sind ab Donnerstag auch in Berlin zu sehen; bei den Autorentheatertagen im Deutschen Theater (DT). Dass dem Festival unter dem Motto „Radar Ost“ ein kurzer internationaler Auftakt mit osteuropäischem Fokus vorangestellt wird, ist seit der letzten Ausgabe neu. Gerade gastierte Kirill Serebrennikows Moskauer Gogol-Center mit der Produktion „Who Is Happy In Russia“ im DT und gab den Autorentheatertagen mit der Frage, wer in Russland eigentlich glücklich sei, ein angemessen komplexes Intro mit auf den Weg.
Luzide moralphilosophische Tiefengrabung
Diese Woche nun geht es mit ausgewählten Gastspielen deutschsprachiger Gegenwartsdramatik weiter – zum Auftakt mit akustischer Körperverletzung: In Stefan Bachmanns Kölner Jelinek-Uraufführung „Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier)“ dröhnt DJ Ötzi in Maximallautstärke aus den Boxen. Und das ist mehr als angemessen, denn als gemütlich erweist sich das Thema definitiv nicht.
Ausgangspunkt von Jelineks Text ist der systematische sexuelle Missbrauch im österreichischen Skisport, der Ende 2017 von der ehemaligen Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg öffentlich gemacht wurde. Die Schauspieler federn zu Beginn des Abends einen blütenweißen Kunst-Skihang herunter, der im Laufe des Abends sein weitreichend schmutziges Innenleben offenbart. Schließlich wäre Jelinek nicht Jelinek, wenn ihr #MeToo und der Skisport – Österreichs „heilige Kuh“ – nicht lediglich zum Sprungbrett gereichten für eine luzide moralphilosophische Tiefengrabung, in der Friedrich Nietzsche als Stichwortgeber, der österreichische Skiverbandschef als der Allmächtige und Jesus als Marktstratege auftritt, der sich sein Opfer-Alleinstellungsmerkmal partout nicht streitig machen lassen will, schon gar nicht von ein paar „Skihasen“.
Ein zusätzlicher Pluspunkt des Kölner Jelinek-Gastspiels besteht übrigens darin, dass es sich auch für Zuschauerinnen und Zuschauer eignet, die den anstrengenden Sprachgebirgen der Autorin bis dato eher skeptisch gegenüberstanden: „Das Lesen von Jelinek-Stücken hat fast was von Folter“, gestand selbst der Regisseur Stefan Bachmann im Vorfeld seiner Uraufführung. Dass „diese unendlichen Assoziationsketten“, die „im stillen Kämmerlein“ zu „großer Frustration und veritablen Wutanfällen“ führten, „zusammen mit Schauspielern“ sofort „sehr viel lustvoller und sinnlicher“ würden, merkt man dem Abend im allerbesten Sinne an.
Gute Aussichten für die Autorentage
Auch, wenn es keinen Trend gibt, schlagen sich in der Gegenwartsdramatik logischerweise genau die Themen nieder, die auch den Rest der Gesellschaft umtreiben: neben Jelineks #MeToo-Beitrag vor allem das Sujet Flucht und Migration. Thomas Köck, der letztes Jahr für sein Stück „paradies spielen“ den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, behandelt es in seinem neuen Text „atlas“ in einer außergewöhnlichen Familiengeschichte, die von einem gegenwärtigen Großstadtflughafen aus Schneisen über mehrere Generationen, Kontinente und Gesellschaftssysteme hinweg schlägt.
Die Geschichte der vietnamesischen Boatpeople wie auch der „Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter“, die in der DDR in Textilfabriken schuften mussten, spiegeln in Köcks Text implizit die heutige Situation – wobei man auf das Leipziger Gastspiel in der DT-Box auch deshalb gespannt sein darf, weil es eine räumliche Herausforderung darstellt: Philipp Preuss hat in seiner Uraufführung in der Diskothek – einer Spielstätte mit Fensterfront zur Straße – das Leipziger Stadtleben konsequent als Mitspielerin einbezogen.
Eine neue und ureigene Stimme in der Gegenwartsdramatik, von der man garantiert noch viel hören wird, ist die gerade mal 26-jährige Enis Maci, die neben Theaterstücken luzide Essays verfasst. Ihr auch sprachlich außergewöhnliches und performativ internetaffines Stück „Mitwisser“, das als Gastspiel vom Wiener Schauspielhaus zu den Autorentheatertagen kommt, verknüpft drei reale Tötungsdelikte zu einem weltumspannenden Drama von Gewalt und Schuld, in dessen Zentrum die „Mitwisser“ stehen: Zeitgenossen, die ähnlich dem Chor in der griechischen Tragödie permanent das (Welt-)Geschehen kommentieren und von denen man vor allem im Internetzeitalter nie weiß, ob sie sich noch im Beobachtungsmodus befinden oder bereits ins Stadium des manipulativen Eingriffs übergetreten sind.
Gute Aussichten also für die Autorentheatertage, die sich traditionsgemäß mit der „Langen Nacht“ in die Schlusskurve legen: Die Uraufführung dreier druckfrischer, von einer Jury ausgewählter Theatertexte beschließt die Saison.
30. Mai bis 8. Juni, Programm unter deutschestheater.de