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Digital in die Vergangenheit. Auf die Besucher wartet in der Dauerausstellung ein interaktives Familienalbum.
© Yves Sucksdorff

Vielgestaltig und multimedial: Jüdisches Museum eröffnet neue Dauerausstellung

Nach heftigen Kontroversen bekam das Museum im April mit Hetty Berg eine neue Direktorin. Die runderneuerte Dauerausstellung ist ihr erster Auftritt.

Knapp 20 Jahre ist die Eröffnung des Jüdischen Museums her, die offizielle Übergabe des spektakulären Baus von Daniel Libeskind, mit der eine erste Dauerausstellung präsentiert wurde. Nicht schlecht, doch in viel zu kurzer Zeit realisiert, gesteht Chefkuratorin Cilly Kugelmann ein, die damals schon am Haus arbeitete.

In die widerständige Architektur des Hauses mit ihren gezackten Gängen und schräg gestellten Fenstern fügte sich die Schau nicht wirklich ein, behäbig-konventionell folgte sie kapitelweise dem Geschichtsverlauf. Daran musste sich etwas ändern, das spürten die Macher selbst sehr bald. Vor drei Jahren wurde die erste Dauerausstellung abgeräumt, Zeit für etwas Neues in einem Umfeld, das sich ebenfalls gewandelt hat.

Ein Sturm fegte seitdem über das Museum hinweg. Eine Jerusalem-Ausstellung zog scharfe Kritik auf sich, der israelische Premier versuchte vergeblich zu intervenieren. Dann wurde dem Haus Nähe zu Vertretern der BDS-Kampagne nachgesagt, Direktor Peter Schäfer musste schließlich gehen.

Mit der Eröffnung der neuen Dauerausstellung hat seine seit 1. April amtierende Nachfolgerin Hetty Berg, die vom Jüdischen Kulturviertel in Amsterdam abgeworben werden konnte, ihren ersten Auftritt. Es ist also in vielerlei Beziehung ein Neubeginn nach der durch Corona verordneten Zwangspause.

Hetty Bergs Worte zur Eröffnung der Ausstellung rühren deshalb in besonderer Weise an, wenn sie das Bild des Baumes als Metapher bemüht für die jüdische Kultur und ihre Wechselwirkungen, der auf seine Umwelt angewiesen ist, zugleich zur Gesundheit und Schönheit seiner Umgebung beiträgt.

Vom Jüdischen Viertel in Amsterdam nach Berlin. Hetty Berg ist seit 1. Mai 2020 neue Direktorin des Jüdischen Museums.
Vom Jüdischen Viertel in Amsterdam nach Berlin. Hetty Berg ist seit 1. April 2020 neue Direktorin des Jüdischen Museums.
© Jüdisches Museum Berlin, Yves Sucksdorff

Den Baum gibt es ganz real im Eingangsbereich der knapp 4000 Quadratmeter großen Ausstellung, die sich über zwei Geschosse zieht. An das fünf Meter hohe, schichtweise aus Holz gesägte Exemplar kann der Besucher auf grüne Blätter geschriebene Wünsche hängen.

[Jüdisches Museum, Lindenstr. 9-14, ab 23. 8.; tägl. 10 – 19 Uhr. Mehr Infos unter: www.jmbberlin.de]

Wer jetzt an Kinderausstellung denkt, liegt nicht falsch – auch wenn sich Anoha, die Kinderwelt des Jüdischen Museums, auf der anderen Straßenseite befindet. Sie soll im November eröffnen.

Geschickt geht die Schau auf Bedürfnisse großer und kleiner Besucher ein, berücksichtigt sie die Interessen von Kennern wie Neulingen der jüdischen Geschichte.

Denn nur eine Station weiter sind in einer Vitrine drei winzige Exponate aus dem 3. Jahrhundert nach Christus zu sehen: ein Amulett, ein Ring und eine Plombe mit jüdischen Motiven wie der Menora, dem siebenarmigen Leuchter, die in römischen Siedlungen nördlich der Alpen gefunden wurden.

1700 Jahre jüdische Geschichte: sprunghaft, vielgestaltig, multimedial. Aus der Problematik, dass das Museum keine große Sammlung besitzt – der Verlust vieler Objekt ist dem Holocaust geschuldet –, gewinnt die Ausstellung ihre Dynamik.

Der Besucher bewegt sich zwischen Schauinseln, erfährt hier etwas über die Entstehung der jüdischen Gemeinde zu Worms via computeranimiertem Stadtplan, dort über die Legende der Hostienschändung, ein uraltes Stereotyp des Antisemitismus, das sich bis ins 19. Jahrhundert hielt.

Das Brandenburger Dommuseum entlieh zur Veranschaulichung zwei Holzmesser aus dem 16. Jahrhundert, die in einem Prozess als Beweismittel dienten. Das damalige Urteil lautete: Todesstrafe für 40 Juden.

Die Republik und die Juden. Das „Weimar-Kino“ verhandelt die 1920er-Jahre.
Die Republik und die Juden. Das „Weimar-Kino“ verhandelt die 1920er-Jahre.
© Yves Sucksdorff

Der Besucher bekommt nur Häppchen geliefert, die von Ausgrenzung und Assimilation erzählen, der Doppelgeschichte der Ashkenazy, die sich einerseits an ihre Umgebung anpassten und andererseits ihr religiöses Leben weiterführten.

Zu gerne würde man sich vertiefen in jene Episode des Buchdrucks, wie jüdische Drucker die Druckstöcke evangelischer Bibeln für hebräische Lettern nutzten, oder was es mit den Schutzbriefen und Aufenthaltsgenehmigungen für jüdische Kaufleute auf sich hatte, die in der frühen Neuzeit zwischen 300 Einzelstaaten in Europa verkehrten. Schon geht es weiter.

[Behalten Sie den Überblick über die Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez mit den Tagesspiegel-Bezirksnewslettern. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Und doch funktioniert das etwas kurzatmige Konzept, nicht zuletzt durch die separierten Themenräume, die sich in die grobe Chronologie fügen. Sie erfrischen den Geist, machen neugierig auf den Fortgang.

Das gelingt manchmal mit einfachen Mitteln, durch sinnliche Erfahrung wie bei den Soundduschen und ihren wechselnden Klängen – Purimrasseln, Synagogengesang, Klezmermusik.

Berühmtheiten im Comicformat. Blick in die „Hall of Fame“.
Berühmtheiten im Comicformat. Blick in die „Hall of Fame“.
© Roman März/Illustrationen: Andree Volkmann

In den dazwischen geschobenen Kapiteln werden Facetten des religiösen Lebens aufgegriffen. An die Wand projiziert berichten Repräsentanten der Community von ihrem Alltag und rücken dadurch näher.

Ein junger Vater erzählt davon, wie er seinen kleinen Sohn an Halloween zum ersten Mal mitgehen lässt, ein Geschäftsmann vom koscheren Essen und wie er es praktiziert.

Die Ausstellung lässt gezielt die Genres aufeinander prallen. In die schöne Galerie mit kostbaren Gemälden auf gläsernen Stelen von Max Liebermann, Lesser Ury und Felix Nussbaum gelangt der Besucher über das Treppenhaus, in der sich eine kesse „Hall of Fame“ befindet mit comic-artigen Porträtzeichnungen 70 jüdischer Berühmtheiten wie Lilli Palmer, Elias Canetti oder den Marx-Brothers.

Und auf den Bombast eines Anselm Kiefer, der eine 12-Tonnen-Skulptur zur Kabbala auf einen dafür extra verstärkten Boden wuchten durfte, folgt das nicht ganz ernst gemeinte Fragespiel „Hätten Sie das Zeug zum Messias?“ Ab fünf Punkten erhält man schon Lob („Chapeau! Sie haben Potenzial...“). Nur Frauen kriegen keine Chance, der Messias muss schließlich männlich sein.

Der Holocaust wird an konkreten Schicksalen verhandelt

Der zweite Ausstellungsteil widmet sich ausführlich der NS-Verfolgung. Die Szenografen haben es perfekt verstanden, die Wucht der über 900 antijüdischen Bestimmungen durch schiere Nennung an herabhängenden Fahnen anschaulich zu machen, ebenso die Vergeblichkeit vieler Wiedergutmachungsanträge nach dem Zweiten Weltkrieg durch das überladene Aktenregal eines Rechtsanwalts.

Der reinen Masse an diskriminierenden Gesetzen oder Restitutionsanträgen stehen konkrete Schicksale gegenüber wie jene Gruppe junger Leute, die sich arglos, ja lächelnd kurz vor ihrer Deportation fotografieren ließ.

Die Synagoge Plauen wurde 1938 in der Pogromnacht zerstört. Die Schau erlaubt einen Blick per Virtual Reality.
Die Synagoge Plauen wurde 1938 in der Pogromnacht zerstört. Die Schau erlaubt einen Blick per Virtual Reality.
© TU Darmstadt/Architectura Virtualis

Darauf antworten wiederum Aufnahmen jüdischer Jugendlicher in gestreifter Häftlingskleidung. Sie hatten überlebt und als Zeichen ihrer Widerständigkeit für die Kamera noch einmal die KZ-Kluft angezogen.

Aus dem gleichen Grund badete Lee Miller, die als Fotografin die alliierten US-Truppen begleitete, in Hitlers Wanne. Kein Triumph, aber ein später Sieg über die Geschichte.

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