Biennale Venedig: Im Theater der glühenden Dunkelheit
Nicht angucken, sondern miterleben. Und mitmachen! Ein Rundgang durch die Länderpavillons auf der 57. Biennale di Venezia, vor der Eröffnung am Samstag.
Zu schön, um wahr zu sein. Die Schlange ist nicht lang, der Wartende ist sogleich an der Reihe und bekommt von dem Mann mit dem blauen Fez die Visa-Formulare gereicht. Er notiert sich den Namen, der Aspirant hinterlässt seinen Daumenabdruck auf dem „Freesa“ genannten Pass, und schon ist er Bürger in einem neuen freien Land, dem vor 250 Millionen Jahren untergegangenen Superkontinent Pangaea. Damals hingen Afrika, Asien, Amerika, Europa und Australien noch zusammen, so wie es sich sechs Monate lang gleichsam auch in Venedig vollzieht.
Alle zwei Jahre rücken auf der Biennale die Nationen en miniature zusammen – in den Pavillons der Giardini und in den Palazzi der Stadt, eine vorübergehend heile Welt der Kunst. 81 Staaten nehmen teil, vier sind neu: Antigua, Barbuda, Kiribati, Nigeria und Kasachstan. In Venedig vertreten zu sein besitzt zwar keine politische, nur repräsentative Bedeutung. Die Selbstdarstellung mit den Mitteln der Kunst berührt trotzdem Fragen der nationalen Ehre.
Auch Tunesiens Biennale-Beitrag ist eine Mischung aus Performance und Installation
Die Besucher spielen die kleine Scharade mit dem „Freesa“-Antrag trotzdem gerne mit, stellen sich zum Registrieren brav in die Reihe vor den weißen Boxen im Arsenale und an der Riva dei Sette Martiri. Tunesiens Biennale-Beitrag ist eine Mischung aus Performance und Installation: Die Bürger ihres fantastischen Reichs sind am blauen Daumen zu erkennen. Ein Spiel, das allerdings allzu harmlos daran erinnert, wie viele Geflüchtete derzeit um Aufnahme in anderen Ländern barmen.
Das Thema Flucht, Vertreibung, Toleranz kommt in vielen anderen Beiträgen der Biennale vor. Olafur Eliasson hat für „Green light – An artistic workshop“ in der Stadt lebende Flüchtlinge als Praktikanten engagiert. Die bauen nun aus hölzernen Modulen Lampen zusammen und erfreuen sich vor allem daran, mal etwas anderes machen zu können als nur zu warten. Um sie herum wandern Damen mit Gucci-Taschen, Herren mit Rolex-Uhren und finden das ebenfalls toll. Gegen eine Spende von mindestens 250 Euro lässt sich eine der Lampen erwerben. Eher unfreiwillig wird Olafur Eliassons Beitrag ebenfalls zur Performance, wenn sich zwei Realitäten begegnen und fast berührungslos wieder trennen.
Candice Breitz setzt im südafrikanischen Pavillon auf Emphase, indem sie Flüchtlinge vor der Kamera von ihrem Schicksal erzählen ließ. Die in Berlin lebende Videokünstlerin legte den Kinostars Julianne Moore und Alec Baldwin das Gesagte anschließend als Script vor. Kunst transformiert, selbst wenn sie sich der Dokumentation bedient. Ist sie ergreifend, stark wie bei Breitz, stößt sie vor zum Kern, der humanistischen Essenz.
Bei Anne Imhofs mehrstündiger Performance "Faust" steht der Besucher des deutschen Pavillons mittendrin
Tracey Moffat schnurrt im australischen Pavillon solche Momente in ihrem filmischen Flüchtlingsdrama „Vigil“ auf Sekundenbruchteile zusammen. Zu sehen ist ein voll besetztes Boot, über dem in Comicmanier die Wassermassen zusammenschlagen. Die Kamera nähert sich mit jedem Cut und zeigt dramatisch Details vom Untergang. Dazwischen sind Stills berühmter Filme geschnitten, in denen Hollywood-Stars durch ein Fenster oder ein Fernglas mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starren. Der reale Horror im Breitwandformat, der Biennale-Besucher sitzt auf der Zuschauerbank.
Gefühlte Nähe, reale Distanz, wer sind wir, wer gehört zu uns, diese existenziellen Fragen verhandelt auch der deutsche Pavillon – konkreter und abstrakter zugleich. Bei Anne Imhofs täglich siebenstündiger Performance „Faust“ steht der Besucher zwischen den Darstellern, die mal feindlich, mal freundlich gesonnen miteinander ringen. Der Saal mit dem eingezogenen gläsernen Boden, unter dem die jungen Performer ebenfalls agieren, wirkt wie eine Mischung aus Labor und sakraler Stätte. Ein deutsches Requiem wird hier aufgeführt. Immer wieder setzt elektronische Musik ein, jemand ergreift ein Instrument oder singt. Erschütternd der Song von Eliza Douglas über ihren an Aids verstorbenen Onkel. Das Publikum lauscht ergriffen, folgt verstört dem Ensemble, wenn es Wasser aus Feuerwehrschläuchen lässt und den Boden einer Nebengalerie flutet oder mit Benzin Feuerspuren legt. Destillierte Urgewalten sind hier am Werk, die sich einer eindeutigen Interpretation entziehen.
Im französischen Pavillon proben Musiker, live
Mit dem vis-à-vis gelegenen französischen Pavillon gehört der deutsche zu den stärksten Statements der 57. Biennale. Dort hat Xavier Velhan ein Tonstudio eingerichtet, einer verdichteten Berliner Philharmonie vergleichbar, in dem Musiker beständig proben. Gerade übt eine Sopranistin eine Arie ein, begleitet von einem Pianisten, Schlagzeug, E-Gitarre kommen später an die Reihe. Auch hier befindet sich der Besucher mittendrin, erlebt er die Inszenierung von allen Seiten.
Live-Auftritte, Film ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Biennale. Im dänischen Pavillon lädt Kirstine Roepstorff in ein „Theater der glühenden Dunkelheit“, das kitschig den Wert der nächtlichen Seite preist. Im irischen Pavillon inszeniert sich die Performerin Jesse James als Hexe, die eine neue Frauenbewegung, ein anderes Rechtssystem beschwört. Der russische Pavillon gibt sich als sinistres „Theatrum Orbis“, in dem symbolträchtig eine Miniaturarmee die Bühne bevölkert. Im griechischen Pavillon wird mithilfe vermeintlicher Ton- und Filmdokumente der Fall eines Laborunglücks erzählt, das wie in Aischylos’ Drama „Hiketides“ die Frage aufwirft, ob die Fremden (Viren) zu retten oder die Einwohner zu schützen seien. Die Parallele zur Gegenwart liegt auf der Hand.
Die Chinesen greifen auf ihr historisches Schattentheater zurück, das sie mithilfe einer Multimedia-Wand aufführen. Dahinter befinden sich sechs alte Männer, zwei bewegen die Figuren, vier spielen traditionelle Instrumente und erzählen die Geschichte eines Berges, der durch den Willen des Menschen abgetragen wird und ein Meer mit seinem Gestein füllt. Ob sich damit ökologische Kritik verbindet? Daran hätten sie gar nicht gedacht, antwortet die junge Chinesin aus dem Team – nur an die Kraft des Kollektivs, das Durchhaltevermögen von Generationen.
Bei den Österreichern hat sich Erwin Wurm diesmal einen Lieferwagen vorgenommen, der hochkant auf seiner Stoßstange steht und im Inneren bestiegen werden kann, um von oben die Aussicht zu genießen. Die Haltbarkeit der gewonnenen Erkenntnis ist minimal, nicht viel länger als bei seinen Zwei-Minuten-Skulpturen, bei denen der Besucher diverse Positionen mithilfe von Stühlen, Tischen, Koffern einnehmen soll.
Bei der 91-jährigen Rumänin Bratescu wird das Motto "Viva Arte Viva" bestens eingelöst
Als Tipp galt schon vor Eröffnung der rumänische Pavillon, der das Werk der mittlerweile 91-jährigen Geta Bratescu seit den Sechziger zeigt. Im Wettstreit um die Aufmerksamkeit des Publikums wirken Bratescus farbige geometrische Kompositionen der letzten Zeit, die mit Edding gezeichneten minimalistischen Lineaturen absolut jung und frisch, imponieren die Schwarz-Weiß-Fotografien früher Perfomances, das grafische Werk.
„Viva Arte Viva“, das Motto der Biennale-Hauptausstellung, wird bei Geta Bratescu wie kaum einem anderen Künstler eingelöst. Hinterwäldlerisch, abgehoben, selbstbezogen angesichts der politischen Lage rundum? Nein, sie zeigt ein Stück Freiheit, ohne die es auch die viele aufklärerische Kunst dieser Biennale nicht geben kann.
Biennale di Venezia, 13. Mai bis 26. November. Infos: www.labiennale.org