Theaterfestival Avignon: Im Herzen der Gewalt
Die Ermordung von Jitzchak Rabin, Martin von Essenbecks perverse Nazi-Karriere und Vergewaltigung und Mord in Mexiko: Das Theaterfestival Avignon zeigt eine blutige Welt.
Manchmal wählt das Theater in Avignon in seinem Kampf um die Deutungshoheit den direkten Weg: Dann macht es ein schlankes Statement in Richtung Politik, bekennt sich unumwunden und markiert seine Position. Diesmal bringt Amos Gitaï ein Jahr nach seiner filmischen Recherche „Rabin, the last Day“ beim Filmfest Venedig und einer Multimediainstallation in Rom an einem einzigen Abend im Papstpalast der Rhonestadt das Attentat auf Jitzchak Rabin nun auf die Bühne.
Wie ein Oratorium inszeniert der israelische Filmemacher seine Hommage an den 1995 ermordeten Ministerpräsidenten. Am Tisch in der Mitte sitzen zwei Schauspielerinnen, daneben zwei Musikerinnen. Links wartet ein Chor. Die vier Frauen stehen für die im Jahr 2000 verstorbene die Witwe des Ermordeten. Die arabisch-israelische Schauspielerin Hiam Abbass und ihre israelisch-französische Kollegin Sarah Adler teilen sich die Lektüre von Leah Rabins privaten Erinnerungen, die vom politischen Klima in Israel grundiert werden. TV-Bilder, auf die Papstpalastfassade projiziert, dokumentieren die Massendemonstrationen des rechten Lagers und deren Legitimierung des Mordanschlags. Amos Gitaï zeigt, wie Israel am 4. November 1995 eine Wunde zugefügt wurde, die nicht heilen kann.
Für den Rabin-Abend wird eine Aufführungsserie unterbrochen, deren Stoff ebenfalls aus dem Kino stammt. Der belgische Regisseur Ivo van Hove inszeniert das Drehbuch zu Luchino Viscontis „Die Verdammten“ (1969). Am linken Rand der Bühne sind Schminktische aufgebaut, am rechten stehen sechs Särge. Dazwischen spielt sich das Leben ab, ein prekäres, vorläufiges, von Intrigen, Leidenschaften und den erstarkenden Nazis bedrohtes Dasein. Ein Videobild auf der zentralen Leinwand zeigt jede der Figuren, die in einen der Särge gelegt wird, nochmals im Todeskampf. Die Sterbenden stöhnen für die Nachwelt unhörbar, ringen um Luft. Das Alte kann nicht gehen, das Neue wird die Toten nicht los.
Was im Salon der Industriellenfamilie von Essenbeck geschieht, verdoppelt sich als Video. Ivo van Hove baut die Entwicklung seiner Figuren in choreografierte Theaterbilder ein. Vor allem Martin von Essenbecks perverse Karriere deutet er aus. Der pädophile Familienneurotiker wird zum Werkzeug der NS-Strategen. Christophe Montenez schlüpft hier in eine Rolle, mit der Helmut Berger seine internationale Karriere begann. In Avignon erreicht die Inszenierung für Momente Shakespeare-Niveau.
Van Hove beweist erneut, dass er Kraftlinien freilegen kann, in denen die individuellen Leidenschaften zu Vektoren für politische Umbrüche werden. Rückschlüsse auf den Rechtsruck in Europa und seine neuen Nationalismen können allerdings nicht gezogen werden. Das martialische Schlussbild zeigt von Essenbeck als Terroristen mit gereckter Maschinenpistole. Und mit den Schauspielern der Comédie Française verfügt Ivo van Hove über ein Ensemble, das bis in die Nebenrollen hinein hohe Spielqualitäten aufweist.
Die Inszenierung von „2666“: ein Theatergewitter
Im modernen Theaterneubau der Festivalstadt, der Fabrica, inszeniert Julien Gosselin in einer zwölfstündigen Aufführung Roberto Bolaños nachgelassenes Romanmonstrum „2666“. Der Einstieg ist eine Ménage à trois: Literaturwissenschaftler, die sich in schicken Le-Corbusier-Sofas lümmeln. Bei einer hitzigen Begegnung mit einem pakistanischen Taxifahrer erleben sie dann einen Kulturschock und landen im Herzen der Gewalt, dem eigentlichen Romanthema. Die sonst so anständigen Wissenschaftler prügeln einen Mann krankenhausreif, nachdem er die Kollegin und gemeinsame Geliebte eine Nutte genannt hat. Unheilvoll dröhnt jetzt der Soundtrack, mit dem Gosselin das Theaterabenteuer unterlegt.
Drei Videoprojektionen sorgen für einen Genre-Mix zwischen Schauspiel und Kino. Die fünf Teile des „2666“-Zyklus werden zum Vexierbild, in dem sich ein immer blutigerer Weltzustand spiegelt. Die Geschichte führt immer wieder in di nordmexikanische Stadt Santa Teresa, mit der Roberto Bolaño wohl einen der weltweit brutalsten Orte meinte: Ciudad Juárez. Dort werden Wanderarbeiterinnen für einer Hungerlohn ausgebeutet und in einer nicht abreißenden Vergewaltigungs- und Mordserie getötet.
Julien Gosselin hat den Kultroman kongenial in Bild und Spiel übersetzt. Dabei verzichtet er auf die große Politik. Der Zuschauer weiß nach zwölf spannenden Stunden zwar immer noch nicht, welchem höheren Zweck die ganze Anstrengung gedient hat. Doch ahnt er, dass in Bolaños literarischem Großwerk wie in Gosselins theatralischem Glanzstück das 20. Jahrhundert mit seinen ideologischen Gewissheiten, mit all den politischen Parteien und Glaubensrichtungen endgültig untergegangen ist. Die Theaterkunst findet zu ihrem Kern zurück. Sie zeigt ein unverblendetes Bild des Menschen im Zeitalter einer zügellosen Globalisierung. „2666“ in Avignon – ein Theatergewitter.
Theaterfestival Avignon: bis 24. Juli in Avignon, http://www.festival-avignon.com/en/
Eberhard Spreng
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