Theaterfestival in Avignon: Hier wird auf Gott geschossen
Das Theaterfestival in Avignon widmet sich Shakespeare – aus Berlin ist Thomas Ostermeier mit „Richard III“ dabei.
Vielleicht ein Fall von höherer Zensur: Auf der Bühne soll Marquis de Sade gelesen werden, aber der Mistral rauscht in den Hof des Papstpalastes in Avignon, rüttelt an Zinnen und Aufbauten und an einer tapferen Isabelle Huppert. Die Böen lassen das knallrote Kleid flattern, zerzausen die Frisur und fangen sich mit kurzem Rumpeln im kleinen Kopfmikrofon. Hastig streicht sie sich die Haare zurück, damit sie den nervös flatternden Text vor ihren Augen überhaupt noch lesen kann.
Er stammt aus zwei berühmten Büchern des philosophierenden Pornografen: „Justine oder vom Missgeschick der Tugend“, kollagiert mit dem Folgeroman „Juliette oder die Vorteile des Lasters“. Sie erzählen von zwei Töchtern eines verarmten Kaufmanns und vor allem vom Umgang mit einer zutiefst bigotten, nur auf egoistische Triebbefriedigung bedachten Umwelt. Wo sich Justine erfolglos den dunklen Mächten der Begierde widersetzt, akzeptiert Juliette diese zynisch und macht sich die Erkenntnis zunutze, dass der Trieb von der Macht nicht zu trennen ist, und die Lust nicht vom Schmerz. Am Ende hat Huppert ihre Schlacht heroisch gewonnen, aber manche Nuance ihrer Kunst ist verweht.
So ein lustiger Lear
Eine knappe Woche zuvor hatte der Festivalchef Olivier Py ebenfalls auf der gewaltigen Palastbühne zur Eröffnung des 69. Festival d’Avignon, seine eigenwillige Sicht auf Shakespeares „Lear“ vorgestellt. Cordelia tänzelt im weißen Tutu herum. Als es an ihr wäre, dem abdankenden König was Nettes, Liebevolles zu sagen, klebt sie sich einen Tesastreifen vor den Mund.
Gleichzeitig flammt auf der Fassade des Hofes eine Neon-Leuchtschrift auf: „Ton silence est une machine de guerre“ (Dein Schweigen ist eine Kriegsmaschine) bleibt zweieinhalb Stunden als Motto der Aufführung sichtbar. Die ist so ausgelassen – mit hoch gerissenen Armen, rollenden Augen, geröhrten Parolen – dass man meint, etwas Lustigeres als den Lear habe die Bühne noch nicht erlebt. Die übergroße, immerfort mit dem Himmel ringende Gestik des deutlich zu jungen Lear-Darstellers Philippe Girard ist daran nicht unschuldig und auch nicht die sangesfrohen Kasperliaden des von Jean-Damien Barbin gespielten Narren.
Py zeigt das Shakespeare-Stück als prophetischen Vorgriff
Im gesamten ersten Teil reibt man sich verwundert die Augen: Soll das die im Programmheft versprochene Auseinandersetzung mit einer Welt sein, die nach Sprachverlust in die Barbarei abrutscht? Olivier Pys erste Shakespeare-Inszenierung zeigt das Stück als einen prophetischen Vorgriff auf das mörderische 20. Jahrhundert, das von einem Zweifel an der Sprache als weltschöpfende Kraft gekennzeichnet war und dem Siegeszug einer Technologie, die als Kriegsmaschine alles zunichte macht. Cordelias Schweigen soll diesen Weltuntergang erklären. In einem berührenden Bild streift sie wie eine Fee den leblosen Körper des Vaters. Die Schergen Edmunds, des miesen Karrieristen, tauchen auf: In Armee-Uniformen, mit Kalaschnikows und schwarz vermummten Gesichtern. Sie schießen Salven in den Nachthimmel. Aus dem flattern sofort rote Bändchen herunter. Da fließt also Blut von oben herab und macht klar: Hier wird auf Gott geschossen und Cordelia war ein Engel, der in einer Welt, in der die Sprache der Wahrheit keine Geltung mehr hat, nichts ausrichten kann. Das Schweigen der Leuchtschrift meint letztlich das Schweigen Gottes.
Avignon bietet allerlei Materialhaftes und Solistisches
Weil aber in der ersten Festivalwoche außer Pys katholischem Lear auch Thomas Ostermeiers romantischer „Richard III“ in Avignon zu sehen war (der König als weltverdrossener Popstar) ging die Shakespeareschlacht für Publikum und Presse eindeutig zugunsten des Schaubühnenregisseurs aus. Aber es gibt die Gottsuche ja auch im kleinem Theaterformat. Etwa in dem von Pedro Casablanc gespielten Solo „Hacia la Algría“. Darin landet ein erfolgreicher Architekt auf einem nächtlichen Stadtspaziergang plötzlich vor den Überresten eines von ihm entworfenen, verwahrlosten Kulturhauses, das einstmals der Stolz des kulturellen Aufbruchs der Vororte war. Die von Olivier Py am Madrider Teatro de La Abadia inszenierte Theaterversion basiert auf seinem Prosatext „Excelsior“. Er erzählt von einer Höllenreise und verspricht Sinn nur noch im Akt der totalen Selbstaufgabe.
Avignon glaubt seit seiner Gründung an Sprache als Mittel der Weltheilung. Wenn auf dem Festival jetzt, an jedem einzelnen Tag, ein Teil der „Politeía“ des antiken Philosophen Platon gelesen wird, dann will man nach den Erschütterungen Frankreichs durch die Anschläge auf „Charlie Hebdo“ und den auf eine Gasfabrik bei Lyon den politischen Mechanismus wieder in Gang bringen, der allein stabile Grundlage der Republik sein kann: die offene philosophische Debatte. 60 Amateure, zum Teil aus den sozialen Brennpunkten der Festivalstadt und Schauspielschüler aus Cannes lesen die Gespräche aus dem elementaren Werk. Das ist zwar eine tolle Mischung aus Politik, Philosophie, Kultur- und Sozialarbeit, kann aber den Hunger nach Theater nicht stillen. Avignon 2015 bietet allerlei Materialhaftes und Solistisches. Die große Form lässt noch auf sich warten.
Eberhard Spreng
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