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Demonstranten halten im vergangenen Sommer in Berlin Plakate mit den Aufschriften "Love Europe Hate Austerity" und "Nein zum neoliberalen alternativlos" hoch.
© Monika Skolimowska/dpa

Europa nach dem Brexit: Starke nationale Regierungen machen die EU unsozial

Europa droht ein Flächenbrand des Nationalismus. Das liegt an einem dramatischen Missverständnis - und die Regierungen nutzen das aus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Schumann

Nichts hat die Propagandaschlacht um den Brexit so befeuert wie der Ruf nach Rückkehr zur nationalen Demokratie. „Take back control“, holt die Kontrolle zurück, lautete die Formel, mit der die EU-Gegner die Mehrheit gewannen – und das war vermutlich erst der Anfang.

Den Zorn der Briten über den Verlust ihres demokratischen Rechts zur Einflussnahme teilen Millionen Bürger in ganz Europa, vor allem jene, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen. Schließlich machen sie seit vielen Jahren die Erfahrung, dass, ganz gleich wen sie wählen, für sie nichts besser und vieles schlechter wird. Während Konzerne und Aktionäre ungestraft ihre Milliardengewinne steuerfrei einstreichen und Subventionen kassieren, läuft im unteren Drittel der Einkommenspyramide europaweit ein gnadenloser Wettlauf um niedrige Löhne und den Abbau von Schutzrechten.

Darum gibt es bis heute keine Mindeststeuer für Unternehmensgewinne

Die bittere Ironie daran ist, dass die eigentliche Ursache der Misere keineswegs direkt bei den EU-Institutionen liegt, sondern bei den nationalen Regierungen, auch der britischen. Denn es sind die nationalen Regierungsapparate und politischen Eliten, die seit Jahrzehnten die wirtschaftliche Verschmelzung Europas radikal vorantreiben, aber gleichzeitig verhindern, dass der so geschaffene Binnenmarkt auch sozial und demokratisch regiert wird.

Das sichtbarste Zeichen dafür ist die Allmacht der Räte von Ministern und Regierungschefs. Sie und ihre nationalen Beamten sind es, die in der EU alle wichtigen Entscheidungen treffen, und das unter Ausschluss der Öffentlichkeit und oft ohne parlamentarische Kontrolle. Weil sie sich aber nur gegenüber den Wählern ihrer Heimatstaaten verantworten müssen, stellen sie dabei ihre kurzfristigen, nationalen Interessen immer wieder über das europäische Gemeinwohl, auch wenn der Preis dafür die Unregierbarkeit ist.

Darum gibt es bis heute keine Mindeststeuer für Unternehmensgewinne, weil Großbritannien, Irland, Luxemburg und die Niederlande ihre Staatskassen lieber mit Gebühren für Briefkastenfirmen füllen, als dem Steuersenkungswettlauf in der EU Einhalt zu gebieten. Darum gibt es keinen wirksamen EU-Klimaschutz, weil alle Regierungen die Energiepolitik allein an ihren nationalen Wahlkämpfen orientieren. Darum gibt es bis heute keine wirkliche EU-Sozialpolitik, weil es immer genügend Regierungen gibt, denen das nicht in ihr nationales Kalkül passt.

Darum auch konnten die Krisenländer der Euro-Zone gezwungen werden, sich dem Regime von nicht gewählten Beamten aus der EZB und der EU-Kommission jenseits aller demokratischen Kontrolle zu unterwerfen. Die deutsche Regierung und ihre Alliierten nutzten ihre Stellung als Kreditgeber, um der Euro-Zone eine Wirtschaftspolitik aufzuzwingen, die ihre Interessen schützt, auch wenn das in den betroffenen Ländern Millionen ins Elend stürzte.

Europa-Parlament in Strasburg.
Europa-Parlament in Strasburg.
© dpa

Kein Wunder, dass Europa erneut ein Flächenbrand des Nationalismus droht

Um ihre Räteherrschaft zu rechtfertigen, berufen sich deren Verfechter wie etwa Kanzlerin Merkel oder Präsident Hollande gerne auf die Legitimation durch ihre Wähler. Aber genau das ist der fundamentale Konstruktionsfehler der geltenden EU-Verfassung. Die Summe der nationalen Wahlentscheidungen erzeugt keine demokratische Legitimation für die Vertreter auf EU-Ebene. Dort bilden sie nur einen für die Wähler undurchschaubaren Apparat, dessen Entscheidungen keine Wahl ändert – nicht mal die des Europa-Parlaments. Denn auch die EU-Abgeordneten werden nur national gewählt. Über ihre Karriere entscheiden allein nationale Parteigremien. In der Mehrheit laufen daher selbst die Straßburger Parlamentarier am Gängelband ihrer Regierungen, auch wenn sie sich damit der Lächerlichkeit preisgeben wie etwa beim Krisenregime in Euro-Land. Das machten die Räte allein unter sich aus, und das Parlament fügte sich brav.

Im Ergebnis wird der europäische Wirtschaftsriese entweder schlecht regiert oder nach dem Willen der Stärkeren, fast immer aber gegen die Schwachen. Kein Wunder daher, dass Europa erneut ein Flächenbrand des Nationalismus droht.

Wer das verhindern will, muss jetzt für die Demokratisierung der EU streiten. Dazu gehört eine EU-Kommission, die gewählt – und abgewählt – werden kann. Und das mit einem Parlament, dessen Abgeordnete mittels europäischer Listen gewählt werden und eine Länderkammer, die öffentlich tagt, aber nicht allein entscheiden darf. Ja, das klingt utopisch und ist doch realistischer als die Illusion von nationaler Souveränität in einer europäisierten Ökonomie.

Die EU wird demokratisch sein, oder sie wird nicht sein.

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