Ciudad Juarez: Im tödlichen Rausch
Wer kann, zieht weg. Wer bleibt, schließt sich nachmittags ein und betet, dass es ruhig bleibt. In Ciudad Juarez wüten die mexikanischen Drogenkartelle immer hemmungsloser.
Atemlos biegt ein Junge um die Ecke. „Mama, Mama!“, ruft er, aber die Mutter kann ihn nicht hören. Mehrere Kugeln haben sie getroffen. Blut fließt aus den Stellen, an denen ihr Körper verwundet ist. Sie liegt auf dem Boden der Bar Las Torres in Ciudad Juarez im Norden von Mexiko. „Mama, Mama!“, ruft der Junge. Er hat sich unter dem gelben Plastikband hindurchgewunden, das den Tatort absperrt, und wird doch nie mehr eine Antwort erhalten. Die Mutter ist tot. Sie und fünf andere Frauen, sie waren Kellnerinnen. Erschossen. Schwarz gekleidete, vermummte Polizisten drängen den Jungen weg. Männer mit kugelsicheren Westen und Maschinengewehren.
Warum die Frauen starben? Neugierige sind gekommen, angelockt vom Lärm der Gewehre, dann den Sirenen, dem Licht, das den Tatort ausleuchtet. Sie stehen hier, obwohl es inzwischen spät ist, kalt und dunkel, und eigentlich trauen sie sich bei Dunkelheit nicht mehr raus. Sie tuscheln, Gerüchte, nichts Genaues. Ein Mann ist mit Frau und zwei kleinen Kindern gekommen. Er wohnt in der Nachbarschaft. Die Bar, wispert er, sei schon einmal überfallen worden, vielleicht zahle der Besitzer sein Schutzgeld nicht. Der Sohn des Mannes hat die Finger zur Pistole geformt und zielt in die Menge. Nein, der Besitzer habe mit „dem Falschen“ Geschäfte gemacht, sagt ein anderer in der Menge der Schaulustigen.
Der „Falsche“ ist Joaquin Chapo Guzmánder, der Anführer des Sinaloa-Kartells, des derzeit vielleicht mächtigsten der sieben großen Drogenkartelle. Die beherrschen und umkämpfen ihren Markt mit bisher nicht gesehener Brutalität.
Allein in diesem April haben die Behörden im Nordosten Mexikos 20 Massengräber mit den Leichen von mindestens 145 Menschen gefunden, busweise entführt und ermordet. Am Wochenende gelang es, führende Mitglieder des Kartells Los Zetas festzunehmen, darunter Martin Omar Estrada Luna, genannt „El Kilo“, der für die Massengräber verantwortlich sein soll. Die Gewalt eskaliert aber nicht nur im Norden des Landes, auch in Acapulco oder der Industriestadt Monterrey wird gemordet. Immer wieder werden auch dort Massengräber gefunden. Und obwohl es auch immer wieder Verhaftungen gibt, ändert sich nichts.
Vor der Bar in der Avenida de las Torres werden die Verletzten, zwei Gäste des Lokals, von Krankenwagen abtransportiert. Der weiße Leichenwagen der Gerichtsmedizin wartet noch. Rote Hütchen stehen neben den Leichen, nummerierte gelbe Kegel neben jeder gefundenen Patronenhülse. Es sind mehr als 100 Schuss abgegeben worden. Kaliber 7.62. Kalaschnikow. Das Übliche, gibt der Ermittler zu Protokoll. Ein paar Agenten suchen nach Zeugen, die nichts gesehen haben wollen, die sich wehren, als sie in den Einsatzwagen einsteigen sollen.
Das Sinaloa-Kartell ist seit etwa drei Jahren in Ciudad Juarez aktiv. Es will dem bis dahin vorherrschenden Juarez-Kartell die Stadt abjagen, die wegen ihrer Nähe zur texanischen Grenze von großer strategischer Bedeutung ist. 40 Prozent des Kokains für den US-Markt werden hier durchgeschleust. Und es war ausgerechnet der Präsident von Mexiko, der diesen opferreichen Kampf auslöste.
2007 blies Felipe Calderón zum Drogenkrieg und ließ Soldaten aufmarschieren. Das war genau der Zeitpunkt, als das Juarez-Kartell durch interne Machtkämpfe geschwächt war – und das erschien dem Sinaloa-Kartell ein geeigneter Moment, die Übernahmeschlacht zu starten. Mehr als 34 000 Menschen sind seit Calderóns Fanfare gestorben, manche gehen von 18 Drogenkriegsopfern pro Tag aus. Anfang April gab es in Mexiko-Stadt eine große wütende Demonstration gegen die wirkungslose Politik des Präsidenten.
„Calderón hat einen riesigen strategischen Fehler begangen“, sagt Gustavo de la Rosa, der Menschenrechtsbeauftragte des mexikanischen Bundesstaates Chihuahua. „Die Juarenses halten die Soldaten und die Bundespolizei für eine Art Schutztruppe des Sinaloa-Kartells und machen den Präsidenten für die Gewaltspirale verantwortlich.“
De la Rosa, 64, ein jovialer, mächtiger Mann mit Nikolausbart, kennt wie kein anderer die Verflechtungen der Unterwelt von Ciudad Juarez. Zweimal ist er Mordanschlägen entkommen, einmal einer Entführung. Er hat vier Mobiltelefone und kein festes Büro. Sekretärin, Bodyguards und Dienstwagen wurden ihm wegen seiner Kritik an lokalen Politikern gestrichen. Das ficht de la Rosa wenig an, er fordert unverdrossen eine Strategieänderung. „Eine professionelle Gemeindepolizei, die sich um Prävention kümmert, eine hoch spezialisierte, landesweit vernetzte Ermittlertruppe mit mindestens 100 Mann, und zuallerletzt das Militär für Krisenfälle.“ Doch vernetzt ist wenig. Das Misstrauen ist groß. Es wird auch viel bestochen von den Kartellen, Geld verwischt Loyalitäten.
Seit dem Aufmarsch des Sinaloa-Kartells starben fast 8000 Menschen im Kugelhagel. Zuerst Schlüsselfiguren der Organisationen, dann Dealer, Kleinkriminelle und Polizisten, schließlich auch die, die nur mit jemandem verwandt oder bekannt waren, der vage zur anderen Seite gezählt wurde. Von einem „Zerstörungskrieg bis zur Erschöpfung, in dem immer mehr Unschuldige sterben“, spricht de la Rosa. Im Dezember explodierte im Stadtzentrum von Ciudad Juarez eine Autobombe, vor einem Jahr wurden 16 Schüler bei einer Party im Vorort Salvárcar niedergemetzelt – eine Verwechslung, wie sich später herausstellte. In der Folge verkündete Präsident Calderón den Plan „Todos somos Juarez“ („Wir alle sind Juarez“), der mit 200 Millionen Euro Investitionen in Bildung, Gesundheit und Sozialarbeit ermöglichen und den Kartellen den Nährboden entziehen soll.
Den Frauen in der Bar hat das nicht geholfen. Warum sie starben? Wer sie tötete? Das wird man kaum erfahren.
90 Prozent der Morde werden niemals aufgeklärt. Die zwölf Ermittlerteams der Stadt sind heillos überfordert. Die Gemeindepolizei gilt als unfähig und korrupt. Und die 4500 Bundespolizisten und 3500 Militärs, die Calderón nach Juarez geschickt hat, kennen sich nicht aus in der weitläufigen Stadt. Sie haben kein Informantennetz, bauen wahllos Straßensperren und filzen Häuser. Sie hecheln einem unsichtbaren Feind hinterher, der blitzschnell zuschlägt und unerkannt verschwindet. Und so erleben die Juarenses jeden Tag das immer gleiche traurige Spektakel aus Gewehrsalven, Schreien, Sirenen, Plastikbändern und Hütchen.
Dabei war Ciudad Juarez – wenn auch staubtrocken und nie schön – mal ein Ort mit Zukunft. Mit Vollbeschäftigung, Geld aus Arbeit und Restaurants und Nachtclubs, in denen die Gäste aus dem benachbarten US-Städtchen El Paso bis in die Morgenstunden feierten. Der kurze Aufstieg des Wüstennests begann mit dem 1994 abgeschlossenen Freihandelsvertrag zwischen den USA und Mexiko, der viele US-Firmen auf die andere Seite der Grenze lockte, wo Arbeitskräfte billig, Grundstücke geschenkt und Steuern niedrig waren. Aus 300 000 Einwohnern wurden 1,3 Millionen. Doch der Boom währte nicht lange. Restaurants und Nachtclubs waren die Ersten, die nach Schutzgelderpressungen und Massakern dichtmachten. Mehr als 160 000 Menschen sind vor der Gewalt geflohen, 120 000 Häuser, Geschäfte und Lagerhallen zu verkaufen, die Preise am Boden. Diejenigen, die nicht weg können, haben keine Kraft mehr.
Sie schließen sich nachmittags ein und beten, dass es ruhig bleibt. Taxis lesen keine Passagiere mehr an der Straße auf, sondern arbeiten nur noch über die Zentrale. 70 Prozent aller Ärzte haben ihre Praxen dichtgemacht und in Krankenhäusern, Apotheken oder bei Versicherungen angeheuert.
Mehrfach verfolgten die Killer ihre verletzten Opfer bis in die Hospitäler, um dort in den OP-Sälen ihre Arbeit vollends zu erledigen. Seither nehmen nur noch vier Krankenhäuser Schussopfer auf. Die Chirurgen bleiben anonym, ebenso wie die Staatsanwälte, die die Morde untersuchen. Jeder misstraut jedem. Denn es hat nahezu jeder irgendetwas mit dem Drogenhandel und dem Geld, das er bringt, zu tun: die Bauern, die ihre Scheunen für Zwischenlagerungen zur Verfügung stellen, die Fahrer, die die Ware über die Grenze schaffen, die Autohändler und Kneipenwirte, bei denen der neue Reichtum ausgegeben wird – bis zu Geschäftsleuten, die das Schwarzgeld wuschen und so zu Millionären wurden, und den Politikern, die stets besorgt um gut gefüllte Wahlkampfkassen beide Augen zudrückten. Staatsanwälte und Gouverneure stehen Insidern zufolge auf der Gehaltsliste der Kartelle. Der frühere Sicherheitschef von Bürgermeister Hector Murgia galt als Statthalter des Juarez-Kartells. Er sitzt mittlerweile in einem US-Gefängnis.
Und es sieht aus, als sei auch der noch so junge „Todos somos Juarez“-Plan bereits im Geflecht politischer Interessen hängen geblieben. Hunderte von Krisensitzungen gab es, und es ist kaum etwas passiert. Calderón will unter dem Druck der US-Regierung nicht von der Militarisierung abrücken und misstraut seinen politischen Gegnern, die in Chihuahua an der Macht sind. Bürgermeister Murgia will nur mitmachen, wenn er mehr Geld für eigene Projekte bekommt. Der Gouverneur will seine Ermittlungsbehörden nicht bevormunden lassen. Die Unternehmen wollen mehr Sicherheit, aber weniger Steuern bezahlen.
Nein, er habe leider keine Zeit, er müsse dringend zur nächsten Sitzung, bedauert Murgia auf eine Interviewanfrage – und braust los in seinem gepanzerten Geländewagen, eskortiert von vier Einsatzwagen mit Blaulicht. Er hat einen Abendtermin beim Industrieverband.
Es ist der Abend, an dem um 19 Uhr 20 ein Geländewagen ohne Nummernschilder mit quietschenden Reifen vor einer Bar in der Avenida des las Torres stoppt, drei Männer mit vorgehaltenen Kalaschnikows in die Bar stürzen und schießen und dann zurückspringen in das Auto und in die Nacht davonjagen.
Der Abend, an dem sechs Kellnerinnen sterben und auch zwei ihrer Gäste, und zwei weitere Frauen schwer verletzt werden. Eine Polizeihundertschaft rückt deshalb an, und dann kommt ein Junge atemlos um die Ecke gerannt.
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