Comic „Der Umfall“: „Ich hasse Mensch ärgere Dich nicht!“
Mikael Ross erzählt in „Der Umfall“ von einem ganz besonderen Dorf. Sein Kollege Andreas Hartung hat ihn zu dem Comic und seinen Recherchen dafür befragt.
Der Berliner Comiczeichner Mikael Ross („Lauter leben“, „Totem“) hat für sein aktuelles Buch eineinhalb Jahre lang in Neuerkerode recherchiert, einem Dorf für geistig behinderte Menschen. In „Der Umfall“ (Avant, 128 Seiten, 28 Euro) erzählt Ross die Geschichte eines jungen Mannes mit geistiger Beeinträchtigung. Ross' Buch wurde als erste Arbeit mit dem 2018 ins Leben gerufenen „Berliner Comic-Stipendium“ prämiert. Für den Tagesspiegel wurde Ross von Andreas Hartung interviewt. Er ist ebenfalls Comiczeichner (unclesally*s, Epidermophytie, Comic Culture Clash) und arbeitet an einer fünfteiligen illustrierten Adaption der Lovecraft-Geschichte „Die Farbe aus dem All“, welche von The Dunwich Orchestra vertont wird.
Andreas Hartung: Dein Comic „Der Umfall“ erzählt von dem Dorf Neuerkerode in Niedersachen, welches eine Art inklusives Dorf ist und nur von Menschen mit einer Behinderung bewohnt wird...
Mikael Ross: Fast ausschließlich. Auch ein Teil der Leute, die dort arbeiten wohnen im Dorf, wenn sie wollen. Aber im Großteil ist das Dorf ein Zuhause für um die 800 Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer Mehrfachbehinderung.
Du warst mehrmals dort. Wie muss man sich das vorstellen? Gibt es da verschiedene Häuser mit Wohngruppen, einen Einkaufsladen?
Genau, es gibt einen Einkaufsladen, einen Friseur, einen Kleiderladen, eine Gärtnerei, ein Schwimmbad, ein Freizeittreff für die älteren Bewohner, eine Kunstwerkstatt. Es hat wirklich einen dörflichen Charakter. Es gibt Bürger, die haben ihre eigene Wohnung, es gibt Leute die in den Wohngruppen wohnen. Und es gibt Wohngruppen für Schwerstbehinderte, die dann noch mal ganz anders sind. Es ist sehr vielfältig. Das war auch mein erster Eindruck von Neueckerorde: Man kann es nicht über einen Kamm scheren. Für einige, die in Neuerkerode leben ist es total super, für andere ist es gar nicht gut.
Was meinst Du mit nicht gut?
Neuerkerode bietet viele Vorteile für Leute, die laufen können. Wenn du dich in dem Dorf easy bewegen kannst, dann hast Du dort ein wahnsinnig breites Sozialfeld, was Du als Mensch mit geistiger Behinderung in der Stadt vermutlich nicht hättest. Weil die Leute dort nichts mit Dir zu tun haben wollen. Oder Du nicht die Chance hast, vor die Tür zu gehen wegen des vielen Straßenverkehrs und du deswegen gar nicht so viel erkunden kannst. Wenn Du nicht alleine unterwegs sein kannst und immer einen Betreuer benötigst, bist Du in Neuerkerode etwas benachteiligt. Das ist dann weniger attraktiv.
Haben die Bewohner eine eigene Bezeichnung für sich? Weil Du vorhin Bürger gesagt hast - das wird ja normalerweise nicht so oft verwendet das Wort.
In Neuerkerode wird eigentlich nur von Bürgern gesprochen. Was ich dort gemerkt habe ist, wir als „Normalos“ brauchen immer dieses Wort des Behinderten, um diese Gruppe zu beschreiben. Aber die Gruppe selbst braucht dieses Wort überhaupt nicht (lacht), weil sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind. Es ist so, wie wir nicht damit beschäftigt sind, dass wir keine vier Beine haben. Und das war auch die Grundidee, wie wir dieses Buch angegangen haben. Dass der Leser direkt in die Geschichte hineingeworfen wird. Ohne dass der Leser erstmal eine Info bekommt. Und erst im Laufe des Buches wird erklärt, was Neuerkerode ist und was da passiert.
Das Buch ist eine Auftragsarbeit der evangelischen Stiftung Neuerkerode…
Genau, die ist vor 150 Jahren von einem Pastor und einer reichen Bürgersfrau gegründet worden, die in der Region eine Verelendung von Menschen mit geistiger Behinderung gesehen haben. Vor allem von Kindern. Deren Eltern sind oft in die Stadt nach Braunschweig gezogen und haben dann die Kinder auf dem Land zurück gelassen. Und die Großeltern haben das alleine oft nicht hinbekommen. Da haben die beiden dort ein Haus gekauft und zuerst fünf Kinder betreut. Aus diesem kleinen Anfang hat sich dann eine sehr abwechslungsreiche Stiftungsgeschichte mit Höhen und Tiefen entwickelt. Zum 140igsten Jubiläum wollten sie diese ganze Geschichte aufdröseln und über ihre gesamte Stiftungsgeschichte informieren. Sie haben mit einem Historiker eine Chronik erarbeitet und dann bald gemerkt: Kein Mensch liest das. Weil sie damit einfach nicht in den Kulturbetrieb reinkommen. Der Stiftungs-Leiter Rüdiger Becker hatte damals schon die Idee mit dem Comic, war aber noch nicht mutig genug. Er hat sich jedoch nach dem Erlebnis mit der Chronik vorgenommen: Beim nächsten Jubiläum boxe ich das durch, dass wir ein Comic bekommen. Weil er fest daran geglaubt hat, dass das mehr einschlägt.
Das heißt die Stiftung nimmt Comic als populäres Medium wahr…
Voll. Rüdiger Becker liest viele Comics. Dem restlichen Vorstand musste ich jedoch erstmal erklären, was Comics sind, was man damit machen kann.
Welche Comics hast Du ihnen gezeigt?
Ich habe ihnen meine halbe Bibliothek geschenkt. Weil ich wusste, wenn ich die nicht richtig mit ins Boot kriege, dann werden die dagegen schießen. Da war dabei: Persepolis, Joe Sacco, Maus … Viele haben ja noch vor allem Asterix und Mickey Maus im Kopf und wissen nicht, was da inzwischen alles gemacht wird.
Wie sind sie auf dich als Zeichner gekommen sind?
Der Rüdiger Becker kennt Johann Ulrich vom Avant-Verlag. Er hatte auch bereits zwei Comiczeichner bei sich zu Besuch, die dann aber abgelehnt hatten…
Weißt du wer?
Nein, das weiß ich nicht. Da bin ich auch nicht rangekommen an die Info. Wer hat das an sich vorbeigehen lassen, frage ich mich auch.
Warum hast Du angenommen? Das ist ja schon eine große Herausforderung. Du kommst dahin und sollst so einen Ort porträtieren…
Das war eine große Abwägung. Einerseits habe ich sofort gemerkt: Das ist eine große Chance, als Mensch so etwas kennenzulernen und die Berechtigung zu haben viel Zeit an diesem Ort verbringen zu können. Mir war klar: Das wird etwas mit dir machen und Du wirst mega dazu lernen. Andererseits gab es die Befürchtung: Kann ich überhaupt liefern? Kann ich einem Ort mit 800 Menschen gerecht werden?! Natürlich ist es ein sensibles Thema, bei dem man viel falsch machen kann. Außerdem habe ich noch nie ein Buch selbst geschrieben. Vorher habe ich mit dem Texter Nicolas Wouters zusammengearbeitet. Da war die Arbeitsaufteilung ganz klar. Er Schreiber – ich Zeichner. Aber ich wollte eh diesen Schritt wagen. Und da war dann die Herausforderung. Also dachte ich mir: Mach es! Wenn es schief geht, ist es cool es wenigstens zu versuchen.
Du warst dann viel vor Ort, hast da teilweise gewohnt. Wie lange insgesamt?
Die Recherche dauert etwa 1,5 Jahre und ich bin so alle drei, vier Wochen da hingefahren für meistens zwei bis vier Tage. Ich hatte ein kleines Appartement im Dorf. Am Anfang habe ich versucht sehr journalistisch ranzugehen, bin auf Leute zugegangen und habe gefragt. Dann habe ich gemerkt: Das führt zu nichts.
Warum?
Weil ich mich viel zu sehr eingebracht habe. Aber wenn ich passiver bin, einfach rum sitze, Zeit verbringe und aufschnappe, was um mich passiert… Dann kommt viel zu mir. Dann kommt jemand zu mir, erzählt mir was, fragt mich aus, zeigt mir seine Wohnung, nimmt mich mit, zeigt mir seinen Lieblingsort im Dorf, stellt mir seine Freundin vor. Dann sind die ganzen Sachen passiert, die für die Geschichte wichtig waren. Und mit jedem Besuch hat sich mehr Detailwissen bei mir angesammelt.
Wie hast Du dann aus dem Detailwissen eine Geschichte gemacht? Eigentlich wäre ja die einfachste Form ebenfalls eine Chronik - nur in Comicform.
Diesen Zugang habe ich nicht gewählt, weil ich diese Art von Comics nicht lesen kann. Ich find’s total langweilig. Ich finde es wichtig, sich selbst als Leser ernst zu nehmen. Was würde ich denn lesen wollen?! Wenn ich zu einem stolzen Preis einen Comic kaufe, möchte ich unterhalten werden. Da möchte ich für mich als Leser etwas entdecken. Und so entstand die Idee von einem Perspektivwechsel. Das man die Geschichte aus den Augen von Noel (Hauptfigur) erlebt.
Wie hast du dann die Rahmenhandlung entwickelt?
Ich habe bereits während der Recherchearbeit den Berlin Teil geschrieben, der noch nicht in Neuerkerode spielt. Das habe ich in Neuerkerode erzählt bekommen. Für mich war relativ klar: Ich kenn Berlin. Ich kenne das Urban-Krankenhaus. Da kann ich schon mal anfangen. In der Episode habe ich die Figur des Noel etabliert. Anschließend habe ich ziemlich lange für den Umzug nach Neuerkerode gebraucht. Weil ich dafür viel länger Informationen aufsaugen musste, um dieses Tableau an Figuren parat zu haben. Noel trifft bei seiner Ankunft drei alte Damen, die etwas märchenhaft, wie drei alte Feen durch das Buch gewebt sind. Ich habe etwas gebraucht diese Erzählstruktur zu finden. Bis mir aufgefallen ist: An dem Ort begegnen man oft älteren Frauen, die ein bestimmtes Wissen und eine bestimmte Funktion in dem Dorf haben. Dort leben die Leute von der Altersstruktur sehr eng zusammen, teilweise in Wohngruppen, und die Älteren haben dort eine wichtige Rolle, weil sie die Jüngeren ein Stück weit runterfahren und es einen Austausch gibt. Das war für die Geschichte der Startpunkt: Die alten Damen geben Noel einen ersten Hinweis für wichtige Eckpunkte, wo er in Neuerkerode anstößt. Und die zweite Entdeckung war, dass sich der Ort super anbietet für eine Art Soap Opera, weil alles ständig ein einziges Eifersuchtsdrama ist. Bei jedem Besuch erzählt dir irgendjemand: Der hat mich verlassen! Die hat mich betrogen! Ein Stückweit gehen die Bürger von Neuerkerode offener damit um, was sie in ihren Beziehungen umtreibt. Das bot sich natürlich an.
Bei dieser Erzählweise fällt natürlich auf, dass der historische Ausflug in die Nazizeit, wie ein Einschub wirkt, auch wenn er im gleichen Erzählduktus bleibt, weil es eine persönliche Geschichte ist, die von einer alten Frau erzählt wird.
Ja, das war eine lange Diskussion. Weil es eigentlich eine Geschichte ist, die ein eigenes Buch braucht. Es gab die Überlegung es ganz rauszulassen, aber da mir die Geschichte dieser Frau so zugefallen ist…
Das ist also eine wahre Geschichte?
Ja, sie ist da mit ihren Brüdern hingekommen, als sie acht oder neun war. Und – ich glaube – sie hat keine Behinderung. Sie ist da nur gelandet.
Den Eindruck hatte ich im Buch auch…
Das ist eine rüstige Neunzigjährige. Es war sehr anrührend diese Geschichte zu hören, wie jemand als Kind dahin kommt, es als sein Zuhause annimmt und ein paar Jahre später beschließt, das Zuhause diesen Menschen auszumerzen. Das ist der größte Vertrauensbruch den man sich vorstellen kann. Ich fand es dann wichtiger, es mit im Buch zu haben, als dass das Buch hundert Prozent kontinuierlich ist. Weil wir uns im Zusammenleben mit Menschen mit Behinderung immer zwischen den beiden Extremen bewegen: Auf der einen Seite eine Integration und eine wirkliches Zusammenleben, dann in der Mitte eine Art Ignoranz und an am anderen Ende des Spektrums: Die müssen weg. Und das dieses andere Ende des Spektrums auch in dem Buch vorhanden ist, war einfach wichtig.
Gerade auch wenn man ein Buch zum 150-jährigen Bestehen der Stiftung macht.
Da sind einfach 180 Leute umgebracht worden. Das kann man ja nicht weglassen.
Wenn Du die Geschichte fertig geschrieben hast, wie gehst Du dann an die zeichnerische Umsetzung?
Das passiert oft fast parallel. Ich habe schon in Neuerkerode sehr viel gezeichnet und skizziert und während des Schreibens versucht die Gesichter zu finden, die ganz spezielle Physiognomie, den Ausdruck, die Bewegungen. Dann habe ich eine erste Szene geschrieben und die in Bleistift umgesetzt. In dieser Fassung gebe ich das dann noch mal jemand zum Lesen und überarbeitete es aufgrund des Feedbacks. Anschließend habe ich angefangen das am Lichttisch farbig zu machen …
Sind das Buntstifte oder Wachsstifte?
Es ist alles Buntstift.
Und dann noch mal mit Farbflächen am Computer hinterlegt?
Ja, die Buntstiftstruktur ist zwar superschön, aber wenn Du auf einer Doppelseite 15 Bilder hast, wird das schnell etwas zu lebendig. Die Farbflächen, die in Photoshop dahinterliegen, beruhigen das Ganze noch einmal. Und es musste auch super schnell gehen. Auf einmal waren anderthalb Jahre Recherche für das Buch um und ich stellte fest: Okay, ich habe jetzt noch 6 Monate.
Das heißt, “endgezeichnet“ hast Du das Buch in sechs Monaten?
Ja, und das noch während wir mit dem Atelier umgezogen sind, während dieses Hitzesommers. Das war die zweite Erfahrung dieses Buches, als Zeichner mal wirklich in die Vollen zu gehen: Ich habe meine Story zusammen, ich habe meine sieben Sachen beisammen, ich weiß wie ich zeichne und jetzt rocke ich dieses Buch durch.
Wie lange hast Du dann pro Tag daran gearbeitet?
Ich hatte irgendwann meinen Rhythmus. Kein Bier am Abend. Früh aufstehen, so dass man um 8 Uhr im Studio ist. Dann um 13 Uhr was kochen, eine Stunde Mittagsschlaf und dann meistens noch mal bis 19-20 Uhr. Das war erst eine Sechs-Tage-Woche und dann irgendwann eine Sieben-Tage-Woche. Also das war relativ zackig.
Krass!
Die ständige Angst war, dass die Hand irgendwann schlapp macht. Denn das mit den Buntstiften ist schon recht intensiv. Da musst du aufdrücken.
Das man so eine Zeichenhand bekommt? Wie ein Tennisarm. Eine Atelierkollegin von mir hat das. Die trägt dann immer so ein Handkorsett.
Sie muss klettern gehen. Klettern stärkt die ganze Hand. Das hat mir sehr geholfen.
Zurück zu den Buntstiften. Wie gehst Du mit Farbe um? Wie setzt Du sie ein? Hast Du eine Farbdramaturgie?
Da arbeite ich sehr intuitiv. Beim Schreiben arbeitet man mit seinem Verstand, beim Zeichnen arbeitet man mit seinem Verstand. Bei den Farben da kommt noch mal etwas Anderes von einem rein, was zu so etwas wie eine dritte Erzählspur wird. Was beim Film vielleicht die Musik wäre.
Unterstützende Emotion, oder?
Genau, die Emotionen werden auf einer sehr unterschwelligen Ebene noch mal verstärkt. Die Farben haben auch ein Eigenleben in der Geschichte und oft geschieht es, dass es mir selbst ein Rätsel ist. Warum ist ein Supermarkt gelb? Und dann fange ich an, das auszuprobieren und dann merke ich: Ja, das ist das übertragene Gefühl, was man im Supermarkt hat. Von der Lichteinwirkung. Ich schaue, dass die Farben die Emotionalität der Szene unterstreichen und verstärken. Das der Sommer tropisch von der Farbigkeit ist. Wenn das Gewitter anfängt, dass man das Gefühl hat, dass die Luft schon unter Strom steht. Das die Luft fast braun ist. Wenn eine Figur einen Gefühlsausbruch hat, dass es dann in dieses krasse Rot geht. Das man Figuren unterschiedlich ein einfärbt, wie sie gerade drauf sind. Das in einem Panel die eine Figur rot ist und die andere blau. Das ist diese Herangehensweise von Morris, dem Zeichner von Lucky Luke.
Obwohl ich bei Morris am Ende auch den Eindruck hatte, das war eher Bequemlichkeit.
Ich finde, die Daltons haben mit dem Buch „Der Umfall“ einiges zu tun. Es gibt in diesen klassischen belgischen Comics, mit denen ich aufgewachsen bin, eine Reihe von echt schrägen Charakteren, die vollkommen außerhalb von einer rationalen Logik agieren. Wie Professor Bienlein. Ein Stückweit hatte ich das Gefühl als ich nach Neuerkerode gekommen bin: Wow, das passt voll gut zum Comic. Figuren zu haben, die ein bisschen drüber sind und die sich nicht unbedingt im Rahmen von einer rationalen klugen Lebenssicht verhalten, sondern in ihrer eigenen Logik funktionieren.
Wenn wir jetzt über Farbe geredet haben. Wie wichtig ist dir die Seitenaufteilung. Also, das man am Ende eine schöne Seite hat? Morris hat ja meistens nicht so schöne Seiten.
Manchmal klappt so etwas, wenn man eine Idee hat. Aber meistens ergibt sich das einfach. Vermutlich ist es so, dass man beim dritten Buch das wie ein Jazzmusiker drin hat. Irgendwas in mir weiß dann, wenn ich das so anordne, wird das einigermaßen funktionieren.
Hast Du dir während der Arbeit an dem Buch regelmäßig Feedback deines Auftraggebers geholt?
Es gab alle drei vier Monate eine Vorstandssitzung, wo ich den aktuellen Stand des Projektes gezeigt habe. Ansonsten habe ich mich schon ziemlich geheimniskrämerisch verhalten und hatte dann auch große Sorge, dass irgendwann eine E-Mail kommt: „Wir haben jetzt so lange nichts gesehen. Das geht nicht voran. Wir vertrauen dir nicht mehr.“ Aber das ist nicht passiert. Mir wurde wirklich meine Freiheit gelassen, das in dieser chaotischen Weise zu entwickeln, wie ich es entwickelt habe, wo dann auch erst relativ spät wirklich fertige Seiten zu sehen sind und damit das Gesamtergebnis erkennbar wird. Wäre da ein Auftraggeber, der das hätte früher sehen wollen, wäre ich da gar nicht in die Tiefe gekommen.
Du warst ja in Neuerkerode auch in den Werkstätten und Malateliers. Hatten die dortigen Arbeiten irgendeinen Einfluss auf das Buch?
Die Buntstifte kommen daher. Ich habe vorher noch nie mit Buntstiften gearbeitet und habe gesehen in der Villa Luise ist der Buntstift das Mittel der Wahl und habe dort auch gesehen, was man mit Buntstiften alles machen kann.
Gab es sonst noch etwas, was dich besonders beeindruckt hat?
Vor allem diese Obsession für Mensch ärgere Dich nicht! Es ist unglaublich. Ich hasse Mensch ärgere Dich nicht! Aber dann wollen natürlich alle, dass du mitspielst und dann wirst Du so abgezogen. Du wirst so abgezockt!
Wie? Betrügen die?
Nein, das sind einfach Profis!
Aber, das wird doch ausgewürfelt.
Ja, aber man kann Mensch ärgere Dich nicht tatsächlich gut spielen. Es ist nicht nur Glück. Es gibt auch Techniken. Zum Beispiel, ob du diplomatisch bist oder nicht.
Aber rausschmeißen musst Du doch immer, oder?!
Ja, aber wenn Du sehr schnell spielst, kann das übersehen werden. Du kannst entscheiden, ob Du es übersiehst oder nicht. Wenn drei in der Gruppe beschließen, dass Du verlierst … dann verlierst Du. Egal, was Du würfelst!
Und du hast immer verloren?
Ich habe immer verloren. Das war echt ein wilder Ritt. Mit welcher Inbrunst das auch gespielt wird. Da geht es wirklich um alles.
Hat sich deine Sicht auf Menschen mit Behinderung in den Medien geändert? Ich habe oft den Eindruck, dass die in den Medien sehr romantisiert dargestellt werden. Als eine Art bessere Menschen. Hast du diese Erfahrung ebenfalls gemacht oder ist das Quatsch?
Es gibt zwei Herangehensweisen. Einmal diese romantisierende Forrest-Gump-Herangehensweise. Die andere Herangehensweise ist, dass medial viel über das Leid gesprochen wird. Dass sie es „trotz ihres Leidens,“ „trotz ihrer Krankheit es geschafft haben“. Und ich glaube von beiden dieser Herangehensweisen habe auch die Leute mit einer Behinderung die Schnauze voll. Das einzige was dann oft nicht gefragt wird: Wer ist das eigentlich?! Es wird da eine Generalisierung vorgenommen. Die Fiktion versucht seit fünfhundert Jahren, das Individuum in die Mitte zu stellen. Unsere ganzen Romane handeln nur davon, wie eine Person ein bestimmtes Problem löst. Das ist seit Don Quichotte immer das Gleiche. Das ist die große Stärke der Fiktion, dass man keine Generalisierung vornimmt.
Hast Du aus der Arbeit an dem Buch und den Erfahrungen etwas mitnehmen können, wie man Inklusion zum Beispiel in der Stadt besser umsetzen könnte?
Ich habe keine Ahnung. Das Thema der Inklusion ist zum Haare raufen, finde ich.
Inwiefern?
Das ist jetzt so EU-Leitlinie geworden und an dem Tag, wo sie es beschlossen haben, war schon klar, dass es von allen Politikern nur als billige Worthülse gebraucht werden wird. Es kostet dich null Cent, wenn du es in den Mund nimmst und du stehst voll gut da. Ich habe das Gefühl, die Inklusion wird an die Wand gefahren, weil sie in so einer Billigversion umgesetzt wird.
Und dann heißt es: Hat ja leider nicht geklappt. Geht leider nicht.
Genau … das ist so schäbig. Wo sich in einer Gesellschaft wirklich etwas verändern könnte, wäre in den Schulen. Ich habe das erlebt, als ich in einer Willkommensklasse für Geflüchtete in Lichtenberg unterrichtet habe. Da kam eines Tages ein Flüchtling mit Behinderung hinzu. Der kaum sprechen konnte. Plötzlich haben die härtesten Kids der Klasse, mit denen ich wirklich Probleme hatte, sich dieses Jungen angenommen und für den als Tutor alles gemacht. Das hat die gesamte Stimmung in der Klasse verändert. Ich glaube, diese Chance hätte Inklusion, wenn sie wirklich gut umgesetzt wird. Wenn aber stattdessen keine Sonderpädagogen eingestellt und trotzdem vier Kinder in eine Klasse gesteckt werden, die sehr viel Aufmerksamkeit brauchen, gleichzeitig nichts an den Finanzen geändert wird und wenig weitere Lehrkräfte dazukommen, dann ist das einfach mal das Ding gegen die Wand fahren. Die andere Seite ist, dass Menschen mit Behinderung sehr viele unterschiedliche Bedürfnisse haben. In so einem komplexen Bereich, kann man die Sachen nicht über einen Kamm scheren. Das geht nicht. Das ist eine Katastrophe. Und dann noch mit der Einstellung, dass es nichts kosten darf. Als ich diese Chronik von Neuerkerode gelesen habe, ist der Tiefpunkt die Nazizeit. Aber der Hauptteil dieser 150 Jahre ist: Streit um Geld. Das Land will kein Geld dafür ausgeben. Die ganze Chronik ist ein ständiger Briefwechsel mit dem Leiter, der schreibt: „Wir stehen bei allen Bauern der Region in Schuld. Wir bekommen keine Lebensmittel mehr. Bitte zahlt das Geld, was ihr uns zugesagt habt.“ Und das Geld kommt nicht. Dass wir uns immer noch in diesem Kontext bewegen. Dass es immer noch eine sehr heiße Suppe ist: Geben wir Geld aus für Menschen, die nicht 100 Prozent produktiv sind.
Veranstaltungshinweis: Der Umfall - Mikael Ross im Gespräch mit Gesa Ufer, 31. Oktober 2018, 20 Uhr, Bibliothek am Luisenbad, Badstraße 39,13357 Berlin
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