„Totem“ von Nicolas Wouters und Mikael Ross: Animalische Metamorphosen
Jugendcomics? Erwachsenencomics? Bücher wie „Totem“ erzählen vom Heranwachsen und setzen sich wider besseres Marketingwissens zwischen die Stühle.
Ein unschuldiges Kinderspiel: Louis ist Arzt, sein jüngerer Bruder Thomas der Patient. Eine schwere OP steht an. Mithilfe eines Küchenmesser-“Skalpells“ und Klopapier-“Tupfer“ wird eine Godzilla-Puppe aus Thomas' Bauch entfernt. Fast geht das Ganze schief, als schwere Blutungen eintreten. Doch Louis hat alles im Griff. Mit dem Bügeleisen-„Defibrillator“ wird Thomas wiederbelebt. Gerade noch mal gut gegangen! Im Spiel. Doch als es ans Aufräumen geht, bricht Thomas zusammen, jetzt in echt. Da kann Louis nicht helfen, weder mit Klopapier noch mit Bügeleisen.
Übergang vom Kind zum Teenager
Seit vielen Jahren mühen sich Comic-Künstler, Verlage und Kritiker, die weitläufig verbreitete Meinung zu widerlegen, Comics seien ausschließlich für Kinder. Dafür hat man eigens das Etikett „Graphic Novel“ etabliert. Sowohl die verfälschte Sicht von außen als auch der Versuch der Korrektur werden seit Jahren diskutiert.
Warum das auch an dieser Stelle wieder angeführt wird? In jüngster Zeit gibt es nicht nur vermehrt Comics, die sich im Gegenzug explizit als Kindercomics ausgeben. Es gibt auch zunehmend Comics, die genau jene herbei diskutierte Spaltung in Kinder- und Erwachsenen-Comics verwischen und sich wider besseren Marketingwissens zwischen die Stühle setzen: Thematisch zielen sie auf Jugendliche ab, erzählerisch sind sie aber so komplex und radikal, dass man kaum wagt, sich Jugendliche oder gar Kinder als Leser vorzustellen.
Im vergangenen Jahr erschien mit „Die Mauer“ von Céline Fraipont und Pierre Bailly (die mit „Kleiner Strubbel“ tatsächlich auch eine jener expliziten Kindercomic-Serien veröffentlichen) eine so tragische und düstere Geschichte eines 13-jährigen Mädchens, dass man sie trotz aller Qualitäten am liebsten allen 13-jährigen Mädchen vorenthalten möchte, um sie vor dem Schmerz zu schützen, den die visuell aufregende Erzählung mit ihren düsteren, beinahe holzschnittartig wirkenden Schwarzweiß-Zeichnungen verbreitet.
Ebenfalls in 2015 erschien „Ein Sommer am See“ von den Cousinen Jillian und Mariko Tamaki, das von zwei Freundinnen am Übergang vom Kind zum Teenager erzählt. Sowohl die aufkeimende Sexualität verwirrt die Mädchen zunehmend als auch die immer sichtbareren Probleme und Konflikte der Eltern. Coming-of-Age heißt das Genre, dass sich mit der Schwierigen Zeit der Pubertät beschäftigt.
Auch das jetzt auf Deutsch veröffentlichte „Totem“, aus dem die Szene zu Beginn des Artikels stammt, sitzt zwischen den Stühlen. Nicolas Wouters und Mikael Ross erzählen, wie Louis nach dem Vorfall mit Thomas in ein Sommercamp geschickt wird, während sich die Eltern um seinen Bruder kümmern, der im Krankenhaus liegt.
Im Pfadfinderlager muss sich Louis mit älteren, pubertierenden Jungs rumschlagen, die schon an Mädchen denken und so eine Art Kekswichsen veranstalten, während er sich seinen inneren Ängsten stellen muss. Denn obwohl der Ältere – war er immer der ängstlichere der beiden Brüder. Die rüden Rituale und die Hackordnung der anderen Jungs, der finstere Wald der Ardennen und ein unheimlichen Wesen, von dem er sich verfolgt fühlt, verändern Louis.
Trotz der Farbigkeit düster und geheimnisvoll
Man kann die eingangs geschilderte Szene als das Ende einer Kindheit lesen. Das Spielzeug wird entfernt, das Spiel wird zum Ernst. Die gesamte Geschichte ist ein solcher Balanceakt aus Realismus und Symbolismus – gleitet elegant von einer Ebene zur anderen, so dass der Leser nie ganz sicher sein kann, was Wirklichkeit und was Fantasie ist oder gar Fantasy.
Denn Wouters erzählt die Geschichte auf einer realen Ebene, durchströmt sie aber mit psychologischen und surrealen Bildern, die man aus der Fantastik kennt, bis schließlich die Trennschärfe weicht. Während „Die Mauer“ oder „Ein Sommer am See“ zwar sehr emotional vom Ende einer Kindheit erzählen, aber nie die Ebene des Realismus verlassen, treten der Belgier Wouters und der Berliner Ross, die sich während des Studiums in Brüssel kennengelernt haben, mit „Totem“ zuweilen vollkommen in die Welt der Symbolik ein.
Hier greifen Story und Bilder perfekt ineinander. Denn auch in den Bildern von Mikael Ross, der mit seinen groben, dynamischen Schraffuren deutlich in der Schule von französischen Zeichnern wie Joann Sfar oder Christophe Blain steht, finden sich visuelle Entsprechungen für die erzählerischen Ambivalenzen, die raffinierten Übergänge von einer Ebene in die andere.
Das Spiel mit den Ebenen beherrschen sie: Bereits im ersten gemeinsamen Comic „Lauter leben“ von 2013 mutierte einer der Protagonisten in seiner Raserei kaum merklich zur animalischen Bestie.
Mit Louis' Metamorphose in „Totem“ stehen sie dem ultimativen „Teenage Angst“-Comic, Charles Burns' Coming of Age-Klassiker „Black Hole“ (1995 bis 2005), am nächsten. Bei Burns äußert sich das Gefühl des physischen und psychologischen Übergangs der Pubertät in Häutungen und Deformationen. Die Unsicherheit, die Frage der Zugehörigkeit und die Machtspiele innerhalb dieses Systems münden in die Bildung von Gruppen Aussätziger im dschungelartigen Waldgebiet einer Kleinstadt in Kalifornien. In „Totem“ ist es der dunkle Wald der Ardennen, in dem sich Louis den Ritualen der Älteren stellen muss, aber vor allem den eigenen Gefühlen von Einsamkeit und Verlust.
Wouters und Ross verweben wie bereits in „Lauter leben“ eindrucksvoll die Zeitebenen. Prägende Kindheitserinnerungen blitzen wie Flashbacks auf und machen den Protagonisten in seiner Gegenwart verständlich, ohne dass der psychologische Hintergrund der Figur, die Wucht der emotionalen Beschädigung, banal ans Licht gezerrt wird. Trotz der Farbigkeit ist „Totem“ bis zum Schluss düster und geheimnisvoll. Der bedrängende Strich von Mikael Ross unterstreicht diesen Tonfall. Ein Comic über ein Kind, aber auch hier: Eher kein Kindercomic.
Nicolas Wouters und Mikael Ross: Totem, Avant, 128 Seiten, 29,95 Euro
Christian Meyer
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