Alberto Breccias Lovecraft-Adaptionen: Die Darstellung des Unfassbaren
Comiczeichner Andreas Hartung über Alberto Breccias Lovecraft-Adaptionen, die jetzt auf Deutsch veröffentlicht wurden.
Es ist sehr schwierig, die Geschichten des US-amerikanischen Horrorautors H.P. Lovecraft (1890 -1937) in ein visuelles Medium zu übertragen. In einem Großteil seiner Erzählungen geht es um Welterkenntnis: Ein entsetzter Ich-Erzähler stellt fest, dass die Rolle der Menschheit (und damit auch die eigene) eine andere ist als angenommen. In Wahrheit wird das Universum in Vergangenheit und Zukunft von uralten Wesen beherrscht, für die der Mensch nur ein kurzes evolutionäres Aufblitzen ohne Bedeutung darstellt. Die Auslöschung der Menschheit ist keine Frage des Ob, sondern nur des Wann. Einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, lässt sich diese nicht mehr rückgängig machen und der Erzähler verfällt dem Wahnsinn und/oder nimmt sich das Leben.
Entsetzen als Grundrauschen
Das atmosphärische Grundrauschen der Lovecraft-Geschichten ist das Entsetzen. Dieses wird dadurch vermittelt, dass der Erzähler unentwegt um die richtige Beschreibung des Unfassbaren ringt. Lovecrafts Adjektivdichte ist legendär und war oft Anlass für Spott. Dabei zielt dieses Stilmittel einzig und allein auf den maximalen Effekt: Wenn der Protagonist ständig: „monströs“, „grauenhaft“, „entsetzlich“ stammelt, färbt das Unwohlsein bald auf den Leser ab.
Lovecrafts Geschichten funktionieren als eine Art Suggestionshorror. Die alten Wesen selbst greifen nicht aktiv in das Geschehen ein, bleiben im Hintergrund und werden meist nur diffus beschrieben. Für eine Mücke ist es nun mal sehr schwer, sich ein Bild von einem Elefanten zu machen. Kommt es doch zu einer konkreteren Beschreibung, wird es schnell grotesk.
Ein Kritiker (leider weiß ich nicht mehr wer und wo) hat einmal behauptet, aufgrund Lovecrafts Fischallergie würden alle seine Monsterwesen wie eine gemischte Meeresfrüchteplatte aussehen. Und so wimmelt es in seinen Erzählungen von Tentakeln, Kiemen, Froschaugen und Schwimmflossen. Wobei Tentakel natürlich supercool sind. Und zwar immer und überall. Als lustige Fingerhüte, als Bartfrisur in „Fluch der Karibik“ und (vor allem) auf T-Shirts.
Und so stürzte sich die pulpinspirierte Comic-/Filmszene mit Begeisterung auf Lovecrafts Werk und bescherte der Welt unzählige Stunden fröhlich glibbschiger Unterhaltung. Auf den Anblick von Hellboy, der fluchend mit einem Riesententakelmonster kämpft, sollte niemand verzichten müssen. Aber das ist Rock'n'Roll und verhält sich zu echtem kosmischen Grauen, wie der Besuch eines GWAR-Konzertes zu dem Moment, wenn man feststellt, dass gerade die Halteleine zum Raumschiff gerissen ist und man unaufhaltsam ins leere All treibt. Erkenntnishorror.
Wie stellt man das Nichtfassbare dar?
Da bei Lovecraft alles auf diesen Moment des Entsetzens ausgerichtet ist, bleiben seine Protagonisten oft nicht nur namen- sondern vor allem auch farblos. Es gibt wenig wirkliche Handlung und die übergroßen Monster treten nur im Hintergrund oder gar im Hörensagen auf. Das ist die Ausgangslage für jeden Comiczeichner und Filmemacher, der sich mit Lovecraft auseinandersetzen will. Es kann losgehen: Hier sind Kamera und Zeichenstift. Viel Erfolg!
Viele haben die Herausforderung angenommen. Nur wenige haben sie gemeistert. Alberto Breccia (1919-1993) ist einer von ihnen. Zwischen 1974 und 1979 adaptiere er eine Anzahl von Lovecraft-Geschichten, die jetzt gesammelt auf Deutsch veröffentlicht wurden. Jegliche Rock'n'Roll-Ironie ist ihm (vermutlich auch vor dem biografischen Hintergrund der argentinischen Militärdiktatur) vollkommen fremd. Er will nicht weniger, als den lovecraftschen Schrecken ernsthaft in den Comic transferieren.
Das Problem der Darstellung des Nichtdarstellbaren, des Nichtbegreifbaren löst er durch Abstraktion und grafische Variation. Zu diesem Zweck experimentiert er radikal mit den Techniken der Kollage und der Monotypie, welche faszinierende schlierenhafte Strukturen erzeugt. Mit diesen Mitteln baut er nie gesehene fremde Formen, die gerade noch genug vom Altbekannten übrig lassen, um als Kirche, Höhle oder Berg erkennbar zu sein.
Sichtbar, aber nicht fassbar
In der ersten Geschichte, „Das Fest“, kehrt der Erzähler in das Dorf seiner Ahnen zurück, um an einem uralten geheimen Ritus teilzunehmen. Die Häuser des seltsamen Dorfes werden von Breccia mit groben Klecksen und Pinselstrichen visualisiert. Der Besucher dagegen ist im typischen breccianischen Realismus gezeichnet und sofort als Fremdkörper erkennbar. Das Gesicht des Mannes, der ihm die Tür öffnet, setzt sich aus Punkten und Klecksen zusammen, wird aber dennoch eindeutig als lächelndes Gesicht wahrgenommen und wirkt dadurch so seltsam und fremd, wie im Text beschrieben. Zwei Welten treffen aufeinander.
Je tiefer nun der Erzähler in das Geschehen eintaucht, umso fließender, freier und abstrakter werden die Formen und Gestalten. Wenig später erschafft Breccia mit wenigen gekonnten Pinselstrichen und Kratzern eine riesige Höhle. Darin fliegen fremde Pinselwesen. Eindeutig sichtbar, bedrohlich und doch nicht richtig fassbar. Seine wilden Farbschlieren vermitteln einen rauschhaften Eindruck der Festlichkeiten.
Als sich der Erzähler weigert, auf ein solches Wesen zu steigen um davonzufliegen, fällt seinem Begleiter die menschliche Maske vom Gesicht. Dieses sieht aus, wie ein kunstvoll verunglückter Rorschachtest. Ein ausdrucksloses Monsterantlitz. Nur zusammengesetzt aus Klecksen und Strukturen.
In den folgenden Bildern zoomt Breccia immer weiter bis zwischen die Augen und verstärkt diesen Verfremdungseffekt. Die Züge werden immer unkenntlicher, bleiben aber für den Leser die ganze Zeit erkennbar. Ein ausdrucksloses Gesicht, welches ihn anstarrt. Das ist dann auch der Moment, in dem der Protagonist der Erzählung in Ohnmacht fällt.
Als er erwacht, liegt er in einem konventionell gezeichneten Krankenhauszimmer. Der Arzt sieht aus, wie eine Figur bei Alberto Breccia normalerweise aussieht. Die Stadt aus dem Fenster ist mit Fotos visualisiert – echte vertraute Realität. Der Erzähler ist zurück in der normalen Welt, aber er wird die ekstatische Stadt aus groben Pinselstrichen und klecksartigen Gesichtern nie vergessen. (Und aufgrund dessen vermutlich bald wahnsinnig werden.)
Zwischen Kinderzeichnung und Tiefseeschrecken
In den weiteren Geschichten bleibt Alberto Breccia diesem Stilmittel größtenteils treu und experimentiert stellenweise sogar noch stärker. Einige der Seiten sehen aus, als hätte ein wahnsinniger Matisse sich am Medium Comic versucht. Andere Arbeiten erinnern an Max Ernst (vgl. z.B. „Wald, Vögel, Sonne“ oder „Die versteinerte Stadt“ mit „Cthulus Ruf“). Überall albtraumhafte Landschaften – gezeichnet mit einem Pinselstrich, Collagen auseinandergerissen und neu zusammengesetzt, die Risskanten gut sichtbar.
Darin verstörend fremdartige Wesen zwischen Kinderzeichnung und Tiefseeschrecken. Auf Seite 19 sehen wir „einen Shoggothen … Er hatte die Form geändert … Ich kann es nicht ertragen.“ Breccia schafft das Unglaubliche: dass der Leser genau das sieht. Wir (die Leser) haben einen Shoggothen gesehen (Auch wenn wir vorher nicht wussten, dass es so etwas gibt) und es war schrecklich.
Gegen den Rand gedrückt
Ab der zweiten Geschichte übernimmt Noberto Buscaglia die Adaption ins und er nimmt die Aufgabe sehr ernst. Es scheint fast, als hätte er den Originaltext einfach ungekürzt auf einzelne Comicbilder unterteilt. Der Leser bekommt so zwar einen guten Eindruck von der lovecraftschen Sprachwulst. Doch drückt der Text die Bilder durch seine schiere Menge mitunter fast an den Rand. Mit Sprechblasen arbeiten nur wenige Geschichten. Dazu endet jede der Erzählungen mit einem umfangreichen Textblock, in dem der Endmonolog des Erzählers untergebracht ist, was einen ähnlichen Effekt erzeugt, wie einen Song langsam auszublenden, statt ihn mit einem amtlichen Schlussakkord (= Bild) zu versehen.
Die grafische Wirkung hätte noch überwältigender und verstörender sein können. Es wäre ein interessantes Experiment, Breccias Adaption von “Der leuchtende Trapezoeder“ – eine der grafisch wildesten Geschichten des Bandes – komplett vom Text zu befreien, und dann die Wirkung zu testen.
Kosmisches Grauen heute
Der Avant-Verlag bringt nun alle Lovecraft-Adaptionen von Alberto Breccia in einem hochwertigen Sammelband heraus. Das herausragende moderne Cover und das gelungene Design verdeutlichen, dass es sich dabei nicht um ein ausschließlich comichistorisches Lesevergnügen handelt, auch wenn Breccias Pionierarbeit in den gestalterischen Mitteln beeindruckt. Selbst wenn man heute einige Sachen sicherlich anders umsetzen würde, ist die Intensität, mit der Alberto Breccia es schafft, den lovecraftschen Wahnsinn in ein neues Medium zu übertragen, einzigartig.
Bei aller Altertümlichkeit üben Lovecrafts Geschichten u.a. deswegen auch heute noch solch eine große Faszination aus, weil sie – wenn man von der attraktiven, hohen Tentakeldichte einmal absieht – letztendlich von der Suche des Menschen nach seiner Rolle in einem gleichgültigen Universum handeln. Vollkommen allein und sinnlos im Universum zu existieren, umgeben von anscheinend blindem Chaos (Azathoth), ohne das Versprechen eines gütigen Gottes oder eines übergeordneten Sinnes – das ist kosmisches Grauen.
Ein Thema, das heute immer noch durchaus relevant ist. Angestoßen durch die Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz, wird viel darüber nachgedacht (werden müssen), was den Menschen ausmacht. Und da sind aktuell die Stimmen, die etwas auf die menschliche Haben-Seite schreiben wollen, nicht besonders laut. Sollten Künstliche Intelligenzen (KI) zukünftig in der Lage sein, künstlerisch schöpferisch tätig zu sein, wäre auch dieses Alleinstellungsmerkmal verloren. Auch für Comiczeichnende eine interessante Perspektive.
Vielleicht verdeutlicht das Streben nach dem Erschaffen einer vollkommenen KI aber auch nur die Sehnsucht des Menschen, endlich einen Gesprächspartner zu haben. Um jeden Preis und mit dem Risiko, dass der sich zu einem übermächtigen Wesen entwickelt, welches dem Menschen nur als unbedeutendes evolutionäres Aufblitzen ohne jegliche Bedeutung wahrnimmt. Ob wir dann alle wahnsinnig werden?
Bis es soweit ist, seien jedem Freund kosmischen Grauens und grafischer Höchstleistungen die Lovecraft-Adaptionen von Alberto Breccia wärmstens ans Herz gelegt. Sie sind ein Meisterwerk an Ausdruck und grafischem Wagemut. Liebhaber von Tentakel-T-Shirts und Lovecraft-Rollenspielen sollten jedoch vorher zunächst einen vorsichtigen Blick ins Buch werfen.
Alberto Breccia: Lovecraft, Avant, 29 Euro
Unser Autor Andreas Hartung ist Comiczeichner (unclesally*s, Epidermophytie, Comic Culture Clash) und hat selbst ein Tentakel-T-Shirt entworfen. Aktuell arbeitet er an einer fünfteiligen illustrierten Adaption der Lovecraft-Geschichte „Die Farbe aus dem All“, welche von The Dunwich Orchestra vertont wird. Die bisherigen Ergebnisse konnten Ende Mai auf dem Comic-Salon in Erlangen bei einer Liveaufführung besichtigt werden
Andreas Hartung
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