Michael Cho im Interview: „Mich verbindet eine Hassliebe mit der Werbebranche“
Der Zeichner Michael Cho hat sich vor allem als Illustrator einen Namen gemacht. Jetzt hat der Kanadier seine erste lange Comicerzählung veröffentlicht – wir haben ihn in Toronto zum Interview getroffen.
Tagesspiegel: Ein nennenswerter Teil der in den vergangenen Jahren veröffentlichten realistischen Comicerzählungen ist autobiografisch geprägt. Wie kommt's, dass Sie in Ihrer jetzt auch auf Deutsch veröffentlichten Graphic Novel „Shoplifter“ von der Selbstfindung eines jungen Menschen aus der Perspektive einer Hauptfigur erzählen, die erstens weiblichen Geschlechts und zweitens halb so alt wie Sie ist?
Michael Cho: Das ist einfach ein Trick: Wenn man etwas auch nur annähernd Autobiografisches erzählen will, ohne dass es die Leute merken, dann ändert man einfach das Geschlecht seiner Hauptfigur und schon scheint es um jemand ganz anderen zu gehen.
Das heißt, diese Irrungen und Wirrungen der jungen Corrina haben Sie so ähnlich einst selbst erlebt?
Ja. Ich arbeite zwar, anders als meine Hauptfigur in „Shoplifter“, nicht in einer Werbeagentur. Und ich bin auch kein Ladendieb. Aber ich kann vieles von dem nachempfinden, was Corrina erlebt, weil ich es so ähnlich ebenfalls erlebt habe, als ich in meinen Zwanzigern war. Vor allem dieses Gefühl, sich nicht in die gewünschte Richtung weiter zu entwickeln, irgendwie still zu stehen. Dieses Vakuum, als man mit der Schule und dem Studium fertig ist und dann darauf wartet, dass sein Leben endlich losgeht – aber es passiert erst mal gar nichts. Das haben auch viele andere kreative Menschen, die ich kenne, ähnlich erlebt.
Corrina vermittelt in Ihrem Buch einen desillusionierten, teils zynischen Blick auf die Arbeit in der Werbebranche – wieweit ist das auch von Erfahrungen geprägt, die Sie als kommerzieller Illustrator für derartige Kunden gewonnen haben?
Ich habe mit zahlreichen Werbeagenturen zu tun gehabt, für die ich als Illustrator gearbeitet habe. Und mit der Zeit merkt man, dass es überall eine bestimmte Mischung von Typen ist, die diese Agenturen prägen, von der Empfangsperson über die Art-Direktoren und Texter bis zu den Managern – diese Erfahrungen sind definitiv in das Buch eingeflossen. Und der Zynismus ist wohl darauf zurückzuführen, dass ich immer eine Art Hassliebe für die Werbebranche hatte. Ich sehe sie als notwendiges Übel: Es ist gut, dass sie Leuten Arbeit gibt, aber manche Produkte und die dazugehörigen Kampagnen sind schon sehr zweifelhaft. Und die in meinem Buch präsentierte Werbekampagne für ein Kinderparfüm gab es so ähnlich vor einigen Jahren tatsächlich! Also beschloss ich, meine Geschichte damit starten zu lassen, dass es da einen Konflikt um dieses Produkt gibt, das für mich eines der zynischsten ist, die man sich vorstellen kann.
Sie sind vor allem als Illustrator für namhafte nordamerikanische Zeitungen und Zeitschriften bekannt, dazu haben Sie ein Buch mit Stadtansichten von Torontoer Gassen veröffentlicht und eine Kinder-Detektiv-Reihe illustriert. Als Autor langer Comicerzählungen sind Sie aber mit Ihren 44 Jahren eher ein Anfänger. Wie kam es, dass Sie damit so lange gewartet haben?
Es stimmt, dass ich mehr als die Hälfte meines Lebens als Illustrator verbracht habe. Aber ich habe immer wieder auch selbst publizierte Mini-Comics gemacht und gezeichnete Kurzgeschichten in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Auch habe ich mit einer Gruppe von Zeichnern aus Toronto eine Reihe von Webcomics veröffentlicht. Und ich habe bei meinen Arbeiten für Kinderbücher und –comics sehr viel gelernt. Aber dort waren die Grenzen sehr eng, sobald es um erwachsenere Themen oder düstere Bilder ging, die nicht den Vorgaben entsprachen. Nach und nach wurde mir klar, dass ich gerne ein eigenes, größeres Projekt starten will, bei dem es keine Vorgaben gibt, weder inhaltlich noch vom Umfang. „Shoplifter“ ist als Teil eines größeren Werkes mit fünf Geschichten entstanden, die von fünf unterschiedlichen Personen erzählen. Und da ich nie zuvor einen so langen Comic geschaffen habe, schien es mir sinnvoll, zuerst mit einer der fünf zu beginnen und sie als allein stehende Geschichte zu veröffentlichen. An der nächsten arbeite ich schon. Das ist eine Liebesgeschichte, in der es auch um Suchtverhalten und dessen soziale Folgen geht – mehr verrate ich noch nicht.
Ihr aktuelles Buch lebt von der Hauptfigur, die trotz all ihrer Selbstzweifel und Probleme eine starke Sympatieträgerin ist. Wie haben Sie diese Figur entwickelt?
Sie ist, wie anfangs erwähnt, zum Teil von mir selbst in meinen Zwanzigern geprägt, zum Teil von anderen Menschen, die ich kenne. Viele ihrer inneren Monologe basieren auf dem, was ich und mir bekannte Menschen selbst so ähnlich erlebt haben, zum Beispiel diese fundamentalen Selbstzweifel. Diese Gefühle habe ich angezapft. Und sobald Corrina eine Stimme hatte, haben sich die visuellen Aspekte wie von selbst entwickelt, ihr Gesicht und ihre Gesten sind quasi vor meinem inneren Auge entstanden.
Gerade dieses Gesicht ist ja einerseits sehr klar und reduziert gezeichnet, andererseits sehr ausdrucksstark.
Ja, ich habe sehr hart daran gearbeitet, möglichst viele subtile Gesichtsausdrücke hinzubekommen. Ich wollte, dass sie eine glaubwürdige, reale Figur ist. Es war dafür sehr wichtig, keine Platzbeschränkungen zu haben. So konnte ich mir den nötigen Raum nehmen, um vieles mit wortlosen Panels auszudrücken, in denen kleine Gesten das Innenleben der Figur zum Ausdruck bringen. Sie glauben gar nicht, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, verschiedenen Stimmungen mit minimalen Veränderungen in ihren Augenbrauen zum Ausdruck zu bringen. Das ist eine echte Herausforderung, zum Beispiel in einem Bild gleichzeitig Selbstzweifel und Unverfrorenheit so zu vermitteln, ohne dass es zu übertrieben und cartoonhaft wirkt.
Gibt es Dinge, die Sie trotz Ihrer jahrelangen Erfahrung nicht zeichnen können?
Die größte Herausforderung war die Katze von Corrina. Die habe ich in mein Manuskript reingeschrieben, obwohl ich eigentlich keine Katzen zeichnen kann. Aber es passte einfach zu meiner Hauptfigur, eine Katze zu haben. Und als ich das dann umsetzen musste, habe ich sehr viel Zeit damit verbracht, das Zeichnen von Katzen zu lernen. Ich habe unzählige Skizzen gemacht, vor allem von Youtube-Videos, die Katzen in allen möglichen Situationen und Bewegungsabläufen zeigen.
Ihre Geschichte ist in einer namentlich nicht genannten nordamerikanischen Stadt angesiedelt, die aussieht wie New York…
…ist es aber nicht. Ich wollte es einfach wie eine nicht genauer definierte Großstadt aussehen lassen, in die jemand aus einer kleinen Stadt ziehen würde. Dafür habe ich Elemente vor allem aus New York und Toronto kombiniert. Es gibt Geschäfte, Straßen und Fassaden, die echten Gebäuden in beiden Städten nachempfunden sind, aber oft in ganz anderen Kombinationen als in der Realität. Dabei war mir wichtig, dass das Setting das Gefühl eines realen Kiezes vermittelt, der zur Handlung passt.
Ihr Zeichenstil ist geprägt von einem elegant fließenden Strich, einer markanten Zusatzfarbe und Linien, die oft unsichtbar scheinen, indem Sie viel mit Lichteffekten arbeiten. Können Sie etwas zum Schaffensprozess Ihrer Bilder sagen?
Wenn ich beginne, zeichne ich alles mit klaren, sichtbaren Linien. Aber das ist nur ein erster Schritt, denn viele Linien sind beim Verstehen der Bilder für den Leser gar nicht nötig. Zwei meiner Vorbilder sind die Zeitungs-Illustratoren Noel Sickels und Frank Robbins aus den 1940er Jahren, die in einem sehr klaren, reduzierten Stil gearbeitet haben. Gerade Sickels hat vieles weggelassen, was nicht unbedingt nötig war. Das hat seine Bilder lebendig und naturalistisch gemacht. Das versuche ich auch, indem ich viel mit Licht zeichne, also Linien zu Gunsten von Licht und Schatten weglasse. Das vermittelt Atmosphäre und Emotionen und gibt dem Leser mehr Raum für seine Phantasie.
Immer mehr Zeichner arbeiten am Rechner, Sie auch?
Nur am Schluss, wenn es um das abschließende Bearbeiten der Bilder geht. Davor ist alles Handarbeit, von den Bleistiftskizzen über die Tuschezeichnungen und die Lichteffekte bis zur Kolorierung der Bilder mit Wasserfarben. Hier sind einige Beispiele aus „Shoplifter“ (zieht einen Stapel Blätter aus seinem Regal – siehe die unten stehende Fotostrecke).
Zu Ihrem Oeuvre gehören ja auch gelegentliche Superhelden-Comics wie ein Beitrag für einen Batman-Sammelband…
Ja, in der Hinsicht war ich lange ein komischer Vogel in meinem Freundeskreis. Mein Herz gehört dem Schreiben und Zeichnen von Indie-Comics. Aber meine Jugendliebe sind eben Superheldencomics. Als ich Kind war, waren das zwei komplett getrennte Lager. Aber dann habe als Jugendlicher David Mazzuchellis Arbeiten entdeckt und gemerkt: Mein Gott, man kann ja beides machen! Das war ein echter Augenöffner, wie er einerseits Comicserien wie Daredevil oder Batman gezeichnet hat dann andererseits seine ganz eigenen Sachen gemacht hat. Heute ist das viel normaler, zwischen Indie- und Mainstream-Comics zu hin- und herzuwechseln. Daher zeichne ich Superheldencomics, wann immer ich darum gebeten werde.
Michael Cho: Shoplifter, Egmont, 96 Seiten, 14,99 Euro
Michael Chos Website findet sich hier.
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