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Flucht ins Private. Die Innenansicht vom Haus Möller, das Hans Scharoun in Zermützel bei Neuruppin 1937/1938 entworfen hat.
©  Carsten Krohn/aus dem besprochenen Band

Architektur von Hans Scharoun: Häuser liegen vor Anker

Von den Anfängen in Ostpreußen bis zum Finale im Mauerstadt-Berlin: Carsten Krohn dokumentiert das formenreiche Werk des Architekten Hans Scharoun.

Stromlinienförmig verlief das Leben des von der Nordsee stammenden Hans Scharoun, dessen Gesamtwerk nun in einer Monografie von Carsten Krohn neu erschlossen wird. In chronologischer Reihenfolge zeigt „Hans Scharoun. Bauten und Projekte“ die Arbeiten, deren Bewertung Krohn dem Betrachter überlässt. Unter Mitwirkung der Akademie der Künste und der Scharoun-Gesellschaft wird erstmals sein architektonisches Frühwerk in Ostpreußen umfangreich dargestellt.

Entgegen der modernen Architekturbewegung mit ihren streng geometrischen Formen schuf Hans Scharoun (1893 bis 1972) eine organische Baukunst, die am stärksten in seinen aquarellierten Entwurfszeichnungen hervortritt. Von Anbeginn fügen sich architektonische Fantasien überirdisch in ihre umgebenden Landschaften. Baumkronen gleichen den Sternen im Universum. Unbeeindruckt von jeglicher Architekturlehre und von funktionalen Konstruktionsweisen, lautet das Motto des siebzehnjährigen Bremer Schülers: „Der selbstständige Architekt soll sich nicht von Sensationen, sondern von Reflexionen leiten lassen.“ Sein Berufswunsch unterschied sich von dem seines Vaters – zum Glück wurde Hans nicht Brau-, sondern Baumeister.

Scharoun musste sein Studium 1915 abbrechen

Dass Scharoun von der Schiffs- und Hafenarchitektur seiner norddeutschen Herkunft geprägt war, bezeugt schon der Name „Panzerkreuzer“ (1929/30) seiner Wohnsiedlung in der Siemensstadt, die seit 2008 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Der räumliche Umgang mit verschiedenen Ebenen, der Einsatz von Brücken, Treppen, und Bullaugen sind Gestaltungselemente, die in seiner Architektur immer wieder Anwendung finden.

Für sein gebautes Werk wirft Scharoun in Ostpreußen den ersten Anker. Durch den unerwartet schnellen Einmarsch russischer Truppen im Ersten Weltkrieg litt die Region unter erheblichen Schäden. Ab 1915 wurde ihr ein umfangreiches Wiederaufbauprogramm zuteil, das Scharoun eine leitende Aufgabe während des Militärdiensts erlaubte, zugleich aber den Abbruch seines Architekturstudiums an der Berliner TU bedeutete.

Ohne das Studium jemals wieder aufzunehmen, blieb Scharoun bis 1925 in Insterburg als freier Architekt. Gutshäuser, Kirchen, Kornspeicher und Wohnbauten zählen zu diesem Frühwerk, das sich durch bunte, rhythmische Gestaltungsmotive von konventionellen Rekonstruktionen abhebt und mit Leben erfüllt. Aktuelle Fotografien des Herausgebers in der heutzutage zur Russischen Föderation gehörenden Provinz machen auf den ruinösen Zustand der frühen Bauten Scharouns aufmerksam.

Dimitri Suchin schrieb die Texte dazu; der Architekt engagiert sich im Vorstand der Scharoun-Gesellschaft für die denkmalgerechte Sanierung des bedeutenden Bauerbes im heutigen Tschernjachowsk, die durch Patenschaften unterstützt werden kann (Mehr dazu im Internet unter www.pate.instergod.ru). Dieser Tage hat nun auch die für die Bauten der Moderne engagierte Denkmalpflegevereinigung docomomo ihre Unterstützung für die Insterburger Bauwerke erklärt, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer dauerhaften Sicherung der Bauten.

Am Kulturforum vereinen sich die Werke von Mies und Scharoun

Scharouns Bauhauskollegen Ludwig Mies van der Rohe widmete Carsten Krohn 2014 eine ähnlich gegliederte Monografie. Im Gegensatz zu jenen von Mies folgen Scharouns Grundrisse keinem rationalen Konstruktionsprozess und weichen meist von rechtwinkligen Formen ab. Krohn verweist wiederholt auf die Verbindung der beiden berühmten Wegbereiter der Moderne, die schon Bruno Taut erkannte. Denn parallel zu Mies van der Rohes erstem modernen Klinkerhaus in Guben (heute Gubin, 1925/27) schuf Scharoun ein leider nicht erhaltenes transportables Holzhaus. Beide Architekten entwarfen damit unter Anwendung von Naturmaterialien erstmals offene und flexible Raumgefüge.

Eine weitere Verbindung stellt Sergius Ruegenberg dar. Der Architekt erhielt seine erste Anstellung bei Mies van der Rohe. Während Mies zur Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigrierte, gestaltete der verfemte Scharoun gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Hermann Mattern bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges für private Bauherren moderne Wohn- wie auch Fabrikanlagen. Danach übernahm er die Leitung der städtebaulichen Planung von Groß-Berlin, wobei er Mies’ ehemaligen Mitarbeiter Ruegenberg beschäftigte.

Am Berliner Kulturforum vereinen sich ihre letzten Werke: von Mies die Neue Nationalgalerie, von Scharoun Philharmonie, Musikinstrumentenmuseum und Staatsbibliothek. Hier stehen sich die beiden bedeutenden Modernisten des vergangenen Jahrhunderts in ihren Bauten gegenüber.

Enorme Bandbreite an Bautypen

Krohn veröffentlicht eine Vielzahl historischer Dokumente und Fotografien zum ersten Mal, ermöglicht durch die Zusammenarbeit mit Eva-Maria Barkhofen. Sie leitet an der Akademie der Künste das Baukunstarchiv, dem der einstige Präsident Scharoun mit seinem Tod 1972 eine beträchtliche Anzahl an Zeichnungen, Plänen und Schriften vermachte, sodass das Hans-Scharoun-Archiv dort die größte Abteilung bildet.

Bei der enormen Bandbreite an Bautypen Scharouns hätte der Publikation ein knapper Überblick zum Werdegang des Architekten nicht geschadet. Dies sollte den Leser nicht davon abhalten, sich ganz im Sinne des Architekten von der inneren Gefühlswelt leiten zu lassen – mit Entdeckergeist durch seine bekannten Berliner Bauten, mit Besorgnis angesichts der verfallenen Gebäude in Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, mit neugieriger Begeisterung durch seine expressiven Strukturen und Landschaften.

Carsten Krohn: Hans Scharoun. Bauten und Projekte. Birkhäuser Verlag, Basel, 208 Seiten, mit 350 Abb., 59,95 €.

Therese Mausbach

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