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Freier Radikaler. Regisseur Jacques Rivette (1. März 1928 - 29. Januar 2016) ist tot. Hier ein Archivfoto von 2007.
© Jörg Carstensen/dpa

Zum Tod des französischen Filmregisseurs Jacques Rivette: Hauptsache, das Leben zieht in die Kunst ein

Er war der zarte Intellektuelle der Nouvelle Vague. Jetzt ist der Filmregisseur Jacques Rivette 87-jährig in Paris gestorben. Ein Nachruf.

Ein Schmerz, der einem Phantomschmerz ähnelt. Einer, der einen an eine Abwesenheit erinnert, an die man sich gewöhnt hat, weil man sich ja langsam gewöhnen muss, der Mann war alt, warum von ihm noch immer Neues und Neues erwarten - und plötzlich verwandelt sich der Phantomschmerz in Schmerz. Jacques Rivette ist gestorben, und das Fehlen ist exakt zu lokalisieren, es ist da.

Zum Beispiel vor Jahren diese unvergessliche Begegnung in Paris, darf man sie eine Begegnung nennen? Der Menschenscheue, oder besser: der Fremdenscheue - denn er umgab sich ja mit Mitdenkern und Hinschreibern wie Pascal Bonitzer und Christine Laurent, mit seinem Lieblingskameramann William Lubtchansky, mit Schauspielervertrauten noch und noch - hatte sich zu einem jener Interviewmarathons überreden lassen, wie sie heute so scheußüblich sind, und dann versammelte er 30 Leute für kaum eine Dreiviertelstunde in einem Raum und sprach mit den Bewegtbildern draußen vorm Fenster oder auch mit der Wand. Fragen? Ja. Antworten? Mäanderndes Wandern durch eine Welt, seine.

Ein Meister des Langfilms

Eingeladen wird niemand in seine Filme, aber man darf ohne anzuklopfen hinein und sich in ihnen bewegen lange und frei. Das hat er immer so gehalten und sich nicht um Längen geschert - und ums Kürzen nur, wenn es, sehr nachträglich, ökonomisch angeraten war -, und wer nun schon mal da war, durfte spüren, wie wundersam abenteuerlich eigene weggegebene Lebensstunden vergehen. „Out 1“ (1971) ist mit seinen 773 Minuten, soviel aus dem Buch der Rekorde, der längste Spielfilm der Filmgeschichte, aber eigentlich gehören alle seine Filme eher zu den weiten und tiefen, deren Maß nur jeder selber messen kann.

Er ist - er war, muss es seit Freitag heißen, als er in Paris starb - und er bleibt nun für immer der zarte, verletzliche, unruhige Sonderling unter den Großmeistern der Nouvelle Vague, ihr flirrender Randläufer und Außenseiter. Der vielgeliebte Truffaut ist seit 32 Jahren tot, und die hochgeschätzten Kollegen Chabrol (verehrt wegen der schönen Bosheit zwischen den Menschen) und Rohmer (wegen der unbösen Schönheit) sind beide vor sechs Jahren gestorben.

Sie alle haben, auf ihre Weise, immer aufmerksam nach dem Publikum geschaut, Rivette eher nicht. Darin ähnelt er Jean-Luc Godard, dem nun letzten Überlebenden der einst aus der Arbeit für die Filmzeitschrift „Cahiers du Cinéma“ hervorgegangenen Fünferbande, der allerdings feinsäuberlich darauf achtet, immer zuerst seinen Intellekt auszustellen. Den Intellekt Rivettes darf man fühlen.

"Ich will nur Sachen machen, die gut in sich zusammenpassen"

Wovon erzählen, was zusammenraffen aus einem langen Leben? Dass er, geboren am 1. März 1928 in Rouen, Sohn eines Apothekers war? Schon schöner, einen anderen biografischen Bezug und nebenbei ein treffend handwerkliches Credo wiederzufinden, damals aus der Audienz in Paris: „Ich will nur Sachen machen, die gut in sich zusammenpassen. Logisch, nicht mathematisch. Wie in einer Tischlerei - mein Großvater war Tischler. Ich finde, ein Tisch muss gut auf seinen vier Beinen stehen.“ In sich zusammenpassen: Das heißt, seine "Sachen" genannten Filme müssen sich zu keinem Möbel eines anderen Tischlerregiemeisters verhalten. Und auch nicht unbedingt zu den sonstig selbstgefertigten Stücken.

So hat Rivette, mit „Out 1“ riesige theaterhafte Experimente gefilmt, und er hat, zweiteilig in sechs Stunden, die französische Nationalheilige vermenschlicht („Jeanne la Pucelle“, 1994, mit Sandrine Bonnaire). Schon Mitte der 60er Jahre zog er mit der Diderot-Verfilmung „La religieuse“ lächelnd den Zorn der katholischen Kirche auf sich, und mit „Va savoir“ (2000) gelang ihm sein letzter richtig großer Wurf, ein ungemein sauerstoffreiches, neuzeitliches Divertimento im Stil der Commedia dell'arte - mit Jeanne Balibar in der Hauptrolle. Ein Eklektizist? Ja, einer jenseits aller Genres und Formen, Hauptsache, das Leben zieht in die Kunst ein, da mag das Leben da draußen noch so künstlich sein.

"Die schöne Querulantin": sein einziger Hit

Wen wundert's, die meisten seiner Funkelstücke waren Kassenflops. Nur „Die schöne Querulantin“ (1991), die besser „Die schöne Widerspenstige“ hieße, denn gequengelt wird in den vier Stunden nirgends, wohl aber gekämpft, wurde zum Hit, sogar international. Nach Motiven eines Balzac-Romans steht und sitzt und liegt, meist nackt, Emmanuelle Béart einem von Michel Piccoli wunderbar altersmüde gegebenem Maler über Wochen Modell, und dessen Muse und aufopferungsvolle Lebensgefährtin Jane Birkin schaut dem Kreativtreiben mit wachsender eigener Kampfeslust zu. Manchmal kratzt da minutenlang nur ein Skizzenstift übers Papier, und die Kontrahenten, die sich zur Fertigstellung eines fast aufgegebenen Werks zusammengefunden haben, schweigen. Nichts spannender als das.

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