Berlins neue Chefdirigenten: Gute Noten für die Neuen
Wie Robin Ticciati, Vladimir Jurowski und Justin Doyle Bewegung in die Berliner Klassikszene bringen.
Seit September 2017 sind sie im Amt – und verändern den Klang Berlins schon jetzt spürbar: Robin Ticciati beim Deutschen Symphonie-Orchester, Vladimir Jurowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Justin Doyle beim Rias Kammerchor. Den drei neuen Chefdirigenten ist ihr Start in der Klassik-Hauptstadt gelungen. Weil sie neue programmatische Schwerpunkte setzen und eine Strahlkraft mitbringen, die künftig noch mehr Menschen ins Konzert locken könnte. Ihre Interpretationen leben nicht nur vom Niveau der einzelnen Ensembles – sie stoßen auch Türen auf.
Den schwierigsten Beginn der drei neuen Maestri hat Robin Ticciati erwischt, der nach seinen Antrittskonzerten als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters gleich zwei Programme in Folge erkrankt absagen musste; Auftritte, bei denen er zeigen wollte, was Orchester und Publikum künftig von ihm erwarten dürfen: Schumanns Violinkonzert, Mozarts Jupiter-Symphonie und Mahlers gewaltige Dritte.
Diesen herrlich großen Bogen durften nun Gastdirigenten schlagen. Dass ihnen jeweils mitreißende Konzerte gelangen, liegt aber auch an der Aufbruchsstimmung, die Ticciati beim DSO entfachen konnte. Die Kritik rätselt noch, worin die Meisterschaft des charmanten 34-jährigen Briten genau besteht, und diese Situation scheint die Musikerinnen und Musiker besonders zu animieren, ihr Bestes zu geben. Dem Orchester liegt viel am Gelingen der neuen Liaison, auch, weil die letzten beiden Chefs vorzeitig vom Pult stiegen. Mit Ticciati soll es nun wieder eine weite Perspektive und eine Beziehung geben, in der alle wachsen können.
Beethoven und Brahms will Ticciati noch nicht dirigieren
Dass es ihm dabei mehr um Intimität als um Überwältigung geht, stellt er schon bei seinem Antrittskonzert unter Beweis. Dort konnte das Publikum Zeuge moderner Beziehungsarbeit werden. Der von Simon Rattle geförderte junge Dirigent setzt auf sanfte Rhetorik und sendet viel Wärme ins Orchester. Mit Unschuldsblick steht er vor Strauss’ „Also sprach Zarathustra“, ein Werbender, der mit seinem neuen Orchester kurz darauf an einen Ort geht, wo sonst Techno wummert. Im Kraftwerk Mitte mischt sich Ticciati unter bärtige Biertrinker – und muss sich vorhalten lassen, seinem Publikum mit den präsentierten Uraufführungen zu wenig zuzutrauen. Auch das erinnert an Rattle, der nach dem Start bei den Philharmoniker für seinen seichten Geschmack bei aktueller Musik gerüffelt wurde.
Ticciatis Gespür für feine Klangmischungen zeigte sich zuletzt bei Berlioz’ Oratorium „L’enfance du Christ“. „Bevor ich mit dem DSO Sinfonien von Brahms und Beethoven aufführe, will ich das Orchester noch besser kennenlernen“, sagt der neue Chef. Zeuge dieses musikalischen Bondings zu sein, gehört zu den aufregenden Terminen im Berliner Klassikbetrieb, nächste Gelegenheit am 11./12.2. mit Werken von Lindberg, Berg und Bruckner.
Der markanteste Auftakt gelingt Vladimir Jurowski, der nun als Nachfolger von Marek Janowski das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin leitet. Stringent und herausfordernd in der Programmgestaltung, mit großer Klarheit am Pult, sorgt der 45-Jährige für Abende mit langem Nachhall. Jurowski schmirgelt seine Konzerte nicht glatt, er arrangiert Musikfolgen, die zeigen, dass sich die Lust am Denken und die Lust am Musizieren im Idealfall ergänzen. Dabei geht er als ausgewiesener Musikdramatiker geschickt vor und findet Lösungen für unbefriedigende Bühnensituationen: Schönbergs Vertonung von Psalm 130 für sechsstimmigen A-cappella-Chor stellt er Mahlers Zweiter ohne Pause voran, Luigi Nonos „Fucik“-Fragment geht nahtlos in Beethovens Fünfte über, Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ erklang zum Jahresende zwischen drittem und viertem Satz von Beethovens Neunter.
Das ist alles andere als leichtgewichtig, zumal Jurowski Beethoven in den Retuschen von Gustav Mahler spielen lässt. Mit ihnen wollte der Komponist den sich verändernden Kräfteverhältnissen im Orchester Rechnung tragen und verdoppelte die Bläser gegenüber den erstarkten Streichern. Dieses ästhetische Experiment verlangt vom RSB, einen Riesenapparat agil zu halten, was nur mit äußerster Konzentration und Genauigkeit gelingen kann. Hinter Jurowskis Strenge verbirgt sich gewinnende geistige Eloquenz. Wer die Chance hat, ihn über Musik sprechen zu hören, sollte sie unbedingt nutzen. Doch auch im Konzert ist zu spüren, dass hier jemand nach Zusammenhängen sucht. Das vermag Abonnenten zu versöhnen, die sich vielleicht nach einem etwas gemütlicheren Programm sehnen. Nächster Termin am 4. 3. mit Musik von Schostakowitsch, Brett Dean und Berg.
Justin Doyle, der neue Chef des Rias Kammerchors, stammt wie Robin Ticciati aus England. Beide verbindet auch der Glaube daran, dass ein Musiker mit weitem Spektrum der bessere Dirigent ist. Bei seinem Einstand konnte der 41- Jährige mit einem Monteverdi-Doppel im Boulez Saal und der Hedwigs-Kathedrale zeigen, welche Klangfantasien er der stilistischen Bandbreite von „Marienvesper“ und „Missa in illo tempore“ abgewinnen kann. Doyle lockt sie mit mühelosem 360-Grad-Blick und ansteckender Lust hervor. Lächelnd führt er den Chor an Grenzen, wo der kultivierte Wohlklang des Ensembles allein nicht weiterhilft. Monteverdis subversive Technik der zeitlichen Verrückung etwa katapultiert den Rias Kammerchor hörbar hinaus aus der eigenen Komfortzone.
Das kann Doyle nur recht sein, denn er will dem in Schönheit schwelgenden Rias-Klang neue Facetten hinzufügen. Dazu plant er, Kompositionsaufträge zu vergeben, die Leerstellen im Repertoire schließen. Auch in der ganz Alten Musik gibt es noch Luft für sein Ensemble. Mit Formaten will Doyle spielen, etwa wenn er Werke von Bach (Barock), Henze (Moderne), de Victoria (Renaissance) und MacMillan (Gegenwart) anrichtet wie ein Küchenchef: „Zwischendurch immer wieder ein bisschen Chili und Sorbet, bevor es zum Hauptgang kommt.“ Dem Ergebnis kann man am 2. 3. lauschen. Schon jetzt aber wird deutlich: An reiner Kulinarik ist Doyle nicht interessiert, Musik muss für ihn zu einer Dramatik finden, die mitten ins Leben führt.
2019 kommen dann noch Petrenko, Eschenbach und Rubikis
Weitere Berliner Neubesetzungen kündigen sich an: Obwohl der neue Generalmusikdirektor der Komischen Oper erst 2018/19 antritt, leitet Ainars Rubikis bereits im Juni die Neuinszenierung von Schostakowitschs „Die Nase“. Schon jetzt sorgt der frisch gestartete Erste Kapellmeister Jordan de Souza an der Komischen Oper für musikalischen Glanz. Bei „Pelléas et Mélisande“ weiß er genau, wie viel Delikatesse er dem Orchester abverlangen kann, atmet mit dieser irrlichternden Musik, die – faszinierender Gegensatz – mit größter Klarheit einen feinen Bedeutungsnebel aufziehen lässt. Das weckt Neugier auf ein Sinfoniekonzert unter Leitung des kaum 30-jährigen Kanadiers am 23. 2. mit Werken von Tschaikowski und Schreker.
Noch ein Jahr später übernimmt Kirill Petrenko im Herbst 2019 die Leitung der Berliner Philharmoniker. Der interview- scheue Maestro will erst im Frühjahr 2019 über seine Planungen sprechen. Die Philharmoniker müssen nach Simon Rattles letztem Waldbühnenkonzert also eine Saison ohne Chef verkraften.
Das gilt auch fürs Konzerthausorchester, bei dem sich Iván Fischer zum Sommer verabschiedet – allerdings, um dem Konzerthaus als Ehrendirigent prominent erhalten zu bleiben. Im Herbst 2019 wird Christoph Eschenbach das Orchester übernehmen – und mit dann 79 Jahren den zwei Jahre jüngeren Daniel Barenboim als Altersvorsitzenden der Berliner Chefdirigenten ablösen. Die Musiklandschaft um ihn herum hat sich bis dahin radikal verjüngt, um intensiver denn je zu blühen.