Justin Doyles Antrittskonzert: Das große Loslassen
Justin Doyle tritt beim Rias Kammerchor an. Ihm gelingt im Pierre Boulez Saal mit Monteverdis „Marienvesper“ ein vielversprechender Anfang - und für den zweiten Tag gleich eine kleine Überraschung.
Wie die Klänge wandern, von den Niederungen des Parketts hinauf auf die Einlassebene, und sich dann weiterschwingen in die Ränge, bis dorthin, wo ihnen staunende Blicke kaum noch folgen können – das ist großes Musiktheater. Wenn Justin Doyle sein Antrittskonzert als Chefdirigent des Rias Kammerchors mit Monteverdi im Pierre Boulez Saal gibt, dann liegt darin erst einmal auch die pure Freude an den Möglichkeiten, mit diesen Sängerinnen und Sängern zu arbeiten, in dieser Stadt. Lange hat der 41-jährige Brite an der sich permanent verändernden Verteilung von Solisten, Chor und Instrumenten in Frank Gehrys Raum-Oval gefeilt, auf der Suche nach einem lebendigen, dramatischen Ausdruck für Monteverdis „Marienvesper“. Ein stark vereinfachender, auch in die Irre führender Titel für eine Werkmappe, mit der der Komponist zeigen wollte, dass er sowohl den alten Stil der Kirchenmusik virtuos beherrscht als auch geistvoll und neugierig genug war, um in neue Gefilde aufzubrechen.
Dieser Umstand macht die „Marienvesper“ neben ihrer schier unerschöpflichen, wunderbar plastischen Klangfantasie zur idealen Visitenkarte für einen neuen Chorleiter. Er muss zunächst seine eigene Aufführungsfassung kompilieren, sich befreien von den Gefechten, die Musikphilologen seit Jahrzehnten erbittert um die einzig wahre Form von Monteverdis Meisterwerk führen. Was Papier ist, will Musik werden, kraftvoll, gegenwärtig.
Doyle führt den Chor virtuos an seine Grenzen
Dafür hat sich Doyle mit Katharina Bäuml und ihrem Alte-Musik-Ensemble Capella de la Torre beherzte Mitstreiter erkoren, die ein feines Gespür dafür besitzen, dass es sich bei der „Marienvesper“ keineswegs um ein religiöses Werk im klassischen Sinne handelt. Wie beschwingt der Rias Kammerchor die Vision von Jerusalem als Stadt besingt, in der man zusammenkommen soll. Friede sei mit dir! Wie sinnlich die Concerti auf die Psalmvertonungen folgen, als würde man deren Gehalt sonst gar nicht begreifen können. Wie das Echo wächst im Raum und Fragen beantwortet, wie sich die Meere plötzlich auf Maria reimen. Wie in der „Sonata sopra Sancta Maria“ die Stimmen immer wieder neu rhythmisiert in den kreisenden Orchesterklang eintreten. Es sind der Wunder viele.
Justin Doyle lockt sie mit mühelosem 360-Grad-Blick und ansteckender Lust hervor. Lächelnd führt er den Chor an Grenzen, wo der kultivierte Wohlklang des Ensembles allein nicht weiterhilft. Monteverdis subversive Technik der zeitlichen Verrückung etwa katapultiert den Rias Kammerchor hörbar hinaus aus der eigenen Komfortzone.
Für einen wirklichen Anfang ein gutes Zeichen. Zumal Doyle die Zumutungen virtuos zu verteilen weiß. Auf die „Marienvesper“ folgt noch Monteverdis Missa „In illo tempore“ als Nachtkonzert nebenan in der St.-Hedwigs-Kathedrale. Nach der Toccata aus „L’Orfeo“, der klingenden Signatur Monteverdis, betreten die Sängerinnen und Sänger mit einem gregorianischen Introitus aus der Unterkirche den Raum. Dann flutet Polyfonie im alten Stil den gewaltigen Kuppelbau, und es ist wie ein einziges großes Loslassen. Für den zweiten Tag hat Doyle mit Charme und List die Reihenfolge vertauscht: aus dem Strömen ins Klangtheater. Der Mann hat Nerven.