Lollapalooza Festival Berlin: Glitzer-Pop und Großraumdisko
Casper, K.I.Z., The Weeknd und viele andere traten am Sonnabend beim Berliner Lollapalooza auf. Eindrücke vom ersten Festivaltag.
Steif und stoisch stehen die Steinkolosse am Rande des Maifelds. Zwei Männer mit ihren Pferden, die seit 1936 hier die Stellung halten. Sie haben schon viele Menschenmassen zu ihren Füßen gesehen. Damals als sie noch jung waren, gab es hier prunkvolle Aufmärsche. Sehr zur Freude Adolf Hitlers, der eine Loge in der gegenüberliegenden Langemarckhalle hatte.
Was sich an diesem sonnigen Wochenende auf seinem einstigen Aufmarschplatz tut, hätte ihm sicher nicht zugesagt: Menschen aus der ganzen Welt wuseln durcheinander, keine militärische Ordnung nirgends. Dafür viele lächelnde Gesichter, Blumen im Haar, Glitzerschminke an den Schläfen und Bierbecher in den Händen – die vierte Berliner Ausgabe des Lollapalooza Festivals ist zu Gast in der NS-Kulisse und bemüht sich, deren noch immer machtvoller Ausstrahlung mit Musik und Liebe etwas entgegenzusetzen.
Das klappt schon ganz gut als am Samstagnachmittag die Londoner Elektropop-Gruppe Years & Years auf der Mainstage 1 spielt. Sänger Olly Alexander stößt einen spitzen Schrei aus bevor er „If You’re Over Me“ vom aktuellen Album „Palo Santo“ anstimmt, was einen jungen blonden Mann im Publikum zu der Bemerkung „Ist der schwul oder ist er schwul?“ veranlasst. Ja, ist er. Das versteckt der 28-Jährige auch bei den kleinen Choreografien nicht, die er mit der vierköpfigen Tanzgrupppe zum feinen Dancepop seiner Band aufführt.
Casper fordert Menschlichkeit und Toleranz
Links neben der Bühne ragt der Glockenturm 77 Meter in die Höhe, die zehn Flaggen an seinen Seiten sind bunte Lolla-Banner, doch man kann sich leicht die Hakenkreuz-Fahnen vorstellen, die hier einst flatterten. Einen wie Olly Alexander hat man damals in KZ gesteckt – mit einem rosa Winkel am Revers. Dass der Sänger ein weit ausgeschnittenes rosafarbenes Trägerhemdchen trägt, wirkt fast wie ein stiller Gruß in die schreckliche Zeit.
Diese kommt eine Stunde später noch einmal explizit zur Sprache als der Berliner Rapper Casper auf derselben Bühne sagt: „Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Geschichte wiederholt.“ Der 35-Jährige war am Montag beim „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz dabei, worauf er sich nun bezieht. Es gelte Menschlichkeit und Toleranz zu zeigen. „Gegen Rassismus, gegen Faschismus und gegen Ausgrenzung will ich eure Mittelfinger oben sehen!“, ruft er und bekommt, was er sich wünscht. Dazu noch einen „Nazis raus!“-Sprechchor vor der Bühne.
In Chemnitz trat Casper mit seinem Kollegen Marteria auf. Die beiden haben letzte Woche zusammen das nach ihrem Geburtsjahr benannte Album „1982“ veröffentlicht, das sofort an die Spitze der deutschen Charts stieg. So ist es nur eine kleine Überraschung, als Casper den ebenfalls in Berlin wohnenden Freund zu sich auf die Bühne bittet. Beide tragen weiße Kappen, dazu schwarze „1982“-Shirts und spielen drei Songs aus dem Album. Den Text der Single „Champion Sound“ können die Fans schon auswendig, alle Arme gehen hoch zu der Hymne mit den euphorischen Bläserfanfaren. Auch das melancholische „Supernova“, das im Refrain ein wenig an „Lila Wolken“ von Marteria, Yasha und Miss Platnum erinnert und mit extrem tief grollenden Bässen über das Feld rollt, kommt gut an in der Menge. Sie steht auf einem zu diesem Zeitpunkt noch schönen, weichen Rasen – eine echte Attraktion im Berlin des Post-Hitze-Sommer.
Überhaupt ist der Olympiapark abgesehen von den NS-Zeit-bedingten Irritationen die bisher überzeugendste Location des deutschen Lollapalooza Festivals. Hatte es beim Debüt 2015 auf dem Flughafen Tempelhofer noch an Toiletten gemangelt, waren diesmal ausreichend Kapazitäten vorhanden. Es wurde auch keine Grabruhe gestört und kein öffentlicher Park verwüstet wie in Treptow. Und es gab auch kein Verkehrsdebakel wie letztes Jahr, als das Festival auf der Trabrennbahn in Hoppegarten stattfand. Allerdings hatten sich schon am Samstagmorgen zahlreiche Anwohnerinnen und Anwohnern wegen Lärmbelästigung beschwert.
Auf dem Gelände ist der Sound dafür gut. Die beiden Hauptbühnen auf dem Maifeld werden abwechselnd bespielt, so dass es nicht zu Klangkonkurrenz kommt. Allerdings wehen am späten Abend als David Guetta den Innenraum des Olympiastadions in eine Großraumdisko verwandelt, doch einige seiner Bollerbeats zur Mainstage 2 herüber. Dort tritt als letzter Act die Berliner Krawall-Rap-Combo K.I.Z. auf. In einer Ruinenkulisse passend zu ihrem letzten Album „Hurra die Welt geht unter“ pöbeln sich Nico Seyfrid, Tarek Ebéné,und Maxim Drüner durch ihre Songs über Sex, Geld und Partys. Frauenfeindliche Geschmacklosigkeiten mischen sich darin mit wortmächtiger Gesellschaftskritik, kindische Albernheiten mit krassem Sarkasmus.
Das ist mitunter schwer zu ertragen, etwa wenn sie wie im Eröffnungssong „Hahnenkampf“ Zeilen wie diese rappen: "Dass deine Mutter ein Nilpferd ist, macht dich noch lange nicht zum Ägypter/ Sie wird immer dicker, die Drecksschlampe würde ich nicht von der Bettkante stoßen können/ Ich bringe den Müll runter im Leichensack, es wird ein Hurensohn/ Baby treib ihn ab!“
Auch K.I.Z. waren in Chemnitz bei dem Konzert gegen Rechts dabei. Die „Bild“-Zeitung schockte der Auftritt so sehr, dass sie sich auf einer ganzen Seite über die „27 Minuten Hass auf Veranstaltung gegen Hass“ empörte. K.I.Z. spielen darauf in Berlin immer wieder an. Sichtlich stolz wie auch auf Twitter, wo sie ein Foto des Artikels gepostet haben. Mehr als zehntausend Herzchen gab es dafür. Zwei Stücke, über die sich das Boulevardblatt aufregte, spielen die Kannibalen in Zivil auf dem Lollapalooza Festival. „Urlaub fürs Gehirn“ ist dabei, ein extrem überdrehter Song, der mindestens soviel Selbsthass wie Hass auf eine ausgrenzende Gesellschaft enthält. Auf die Zeilen, die ein Selbstmordattentat gegen Thilo Sarrazin und seine Frau imaginieren, kann man ihn jedenfalls nicht reduzieren.
Nach sieben Uhr tritt auf den großen Bühnen keine Frau mehr auf
Einfacher als Satire zu erkennen ist das Stück „Ich bin Adolf Hitler“, in dem Tarek Ebéné unter anderem rappt: „Nach der Party sieht der Club aus wie Dresden '45/Guck, wie ich den Porsche mit Menschenblut volltanke/Die deutsche Antwort auf die Playboy Mansion? Wolfsschanze!“ Zum Schluss forden alle in Anspielung an DAF „Tanz den Adolf Hitler“. Passt ja hervorragend zur Location, was auch Nico Seyfrid nach dem Lied anmerkt.
Der Innenraum des Olympiastadions ist derweil geschlossen worden, zu viele der rund 70.000 Festivalgäste wollen den französischen DJ David Guetta sehen. Er ist neben dem kanadischen Sänger The Weeknd und Kraftwerk, die am Sonntag auftreten, der einzige große internationale Name der Berliner Lollapalooza-Ausgabe. In Sachen Starpower ist Lolla wie schon im Vorjahr etwas schwach auf der Brust. Auch an der traditionellen Männerdominanz hat sich nichts geändert. Nach sieben Uhr bleiben die vier großen Bühnen sogar gänzlich frauenfrei. Das ist einer so große Musikveranstaltung nicht würdig, einer einst als „alternativ“ gestarteten Franchise schon gar nicht. Beschämend auch, dass Gründer Perry Farrell das Frauendefizit noch gar nicht aufgefallen ist.
Der Auftritt von The Weeknd lässt das allerdings für 70 Minuten vergessen. Zusammen mit einer druckvoll und nuanciert aufspielenden dreiköpfigen Band entfesselt der 28-Jährige ein imposantes R’n’B-Spektakel, das von frühen Songs seines „House Of Balloons“-Mixtapes bis zur aktuellen „My Dear Melancholy“-EP reicht. Den Kern seine Show bilden die Stücke seines überragenden „Starboy“-Albums – den Titelsong haut er gleich als zweites raus. Die dicht gedrängt stehende Menge kennt bis weit hinten den Text.
Abel Makkonen Tesfaye alias The Weeknd ist ein großer Meister des Herzschmerz-Croonings, was er hier mit bewundernswerter Mühelosigkeit demonstriert. Dass er noch dazu einige der besten Glitzer-Pop-Stücke der Gegenwart im Repertoire hat, zeigt er in der Mitte seines Auftritts, als er den schon oft erprobten Dreierschlag aus „Secrets“, „Can’t Feel My Face“ und „I Feel It Coming“ hintereinanderwegspielt. Zum Finale schießen mit den Dröhnbässen von "The Hills" riesige Feuerfontänen in Richtung Olympiastadion. Hitze fliegt über das Feld. Vielleicht haben sogar die beiden steinernen Rossführer etwas davon gespürt. Neben ihnen haben sich junge Fans auf dem Denkmalsockel niedergelassen. Sie trinken Bier, reden, lachen. Respekt für Nazikunst? Fehlanzeige. Gut so.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität