zum Hauptinhalt
Sasha Marianna Salzmann
© dpa

Roman von Sasha Marianna Salzmann: In den Wirren der Umbruchszeit

Sasha Marianna Salzmanns beeindruckender Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ erzählt von einer urkainisch-jüdisch-deutschen Familie, die auch ein bisschen queer ist.

Die Diskursorgel hupte aus allen Registern, als vor vier Jahren „Außer sich“, der Debütroman der bis dahin als Dramatikerin und Hausautorin des Berliner Gorki-Theaters bekannten Sasha Marianna Salzmann, dem avancierten Publikum ans Herz zu legen war.

Sexuelle Ambiguität, Identitäts- und Genderfragen, Migration und existentielle Disruption – alles, was gerade gut und teuer ist, wollte und konnte man im Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und im Alter von zehn Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland ausgewanderten Schriftstellerin finden. Zwar war eine gewisse Verworrenheit nicht ganz zu übersehen, aber sollte eine Autorin, der es darum ging, „Narrative“ aufzusprengen, etwa Plotarbeit nach althergebrachter Art leisten? Ihr Buch sei „so unchronologisch wie nur möglich geschrieben“, hat Salzmann trotzig in einem Interview gesagt.

Wenn man nun ihren lange erwarteten zweiten Roman liest, reibt man sich die Augen. Eigentlich, ja eigentlich ist „Im Menschen muss alles herrlich sein“ doch ein ziemlich herkömmlicher Familienroman! Von den Lebensläufen und Lebenswirren zweier Mütter (Lena, Tatjana) und zweier Töchter (Edi, Nina) ist die Rede – und natürlich von der ganzen jüdisch-ukrainisch-deutschen „Mischpoche“ drumherum.

Bilderbogen bis in die Wendezeit

Zumindest die erste und wirklich eindrucksvolle Hälfte des Romans bietet einen Bilderbogen von den siebziger bis in die neunziger Jahre, von der scheinbar noch intakten Sowjetära bis in die „Fleischwolf“-Zeit der Umbruchsphase. Mit großer Intensität werden zunächst Kindheitsszenen beschworen: Lenas Sommerreisen nach Sotschi, zur Großmutter und ihren Haselnussbäumen, dann die alljährlichen Ferien im Pionierlager, die mit jenem leicht sentimentalischen Schmelz beschrieben werden, den man aus der Memoirenliteratur vieler Autoren kennt, deren Kindheitswelt noch vom Ost-Aroma vor der Wende geprägt war, von den Ritualen des realen Sozialismus, dessen Fragilität sie nicht ahnen konnten.

Zwar taucht der Holodomor – der Hunger-Holocaust an den Ukrainern unter Stalin – in den Erinnerungen alter Menschen immer wieder auf. Die Kinder im Pionierlager plappern jedoch die Partei-Legenden von den bösartigen Kulaken nach, ohne dass die Erzählerin sich hier besserwissend dazwischenschalten würde; gerade deshalb eine starke Szene.

Später gelingt es Lena nach vielen Mühen und Bestechungsversuchen, einen Studienplatz für Medizin in Dnepopetrowsk zu ergattern. Sie möchte etwas wiedergutmachen, denn sie hat Ärztepfusch erlebt: Ihre Eltern wurden von einer Ärztin ausgenommen, die der kranken Mutter falsche, aber sehr kostspielige Medikamente verschrieben und dadurch ihren Tod mitverschuldet hat.

[Alle wichtigen Nachrichten des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu Kommentare, Reportagen und Freizeit-Tipps. Zur Anmeldung geht es hier.]

Beklemmend zeigt der Roman die korrupte Welt der Sowjet-Medizin. Nicht viel besser ist allerdings die postsowjetische Welt der neunziger Jahre, in der Parteibonzen zu Businessmännern mutieren und der Kapitalismus sich mit der Kriminalität amalgamiert. Lena, inzwischen Ärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, lernt die neuen mächtigen Männer in ihrem Behandlungszimmer kennen. Sie fahren teure Autos, bringen edlen Whisky und Umschläge voller Geld mit, damit Lena ihre Syphilis behandelt – und diskreterweise die ihrer angesteckten, in teure Pelze gekleideten Ehefrauen gleich mit. Irgendwann aber hat Lena genug von den Gangster-Genitalien. Zudem drängt ihr Ehemann Daniel auf Auswanderung. Viele Ukrainer mit jüdischen Wurzeln migrieren auch wegen des wachsenden Antisemitismus nach Israel oder Deutschland. Lena landet in einer Jenaer Plattenbausiedlung. Und beginnt eine neue, zurückgestufte Existenz als Krankenschwester.

Die Berliner Bohème

Das alles wird nicht nur sehr anschaulich und empathisch, sondern sogar weitgehend chronologisch erzählt. Komplizierter und sprunghafter wird es in der zweiten Hälfte. Nun geht es um Lenas Tochter Edi, die sich in Berlin als Journalistin ausprobiert und in einem Bohème-Milieu lebt, wo die Haare gefärbt, die sexuellen Identitäten „nichtbinär“ und das eigentliche Zuhause die Clubs sind. „Mein Leben ist so viel besser, seit ich lesbisch bin“, sagt Edi. Sie hat sich in eine Türsteherin verliebt, eine Muslima mit Bürgerkriegshintergrund. Einmal rastet sie aus und zerschmettert eine Scheibe, als ihr Vater Daniel mit der Behauptung kommt, dass man „so etwas“ heilen könne.

Allerdings liebte schon Lena im Pionierlager ein Mädchen, Aljona mit der porzellanweißen Haut, dem Sanddorngeruch, den zwiebelgelben Augen und dem hinkenden Gang. Das ist eine eigenwillige Kombination von Eigenschaften – eine Technik, durch die Salzmann nicht nur dieser Figur ein unverkennbares Profil zu geben versteht.

[Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im monatlichen Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel - hier geht es zur Anmeldung.]

Eine weitere zentrale Figur taucht ebenfalls erst spät auf: Tatjana ist eine enge Freundin Lenas, und auch ihr Vorleben wird nun mittels langer Rückblenden ausgebreitet. Auch hier ist viel Post-Perestroika-Chaos zu besichtigen, Gewalt, Betrug und Egoismus sind die Leitmotive. Von einem dubiosen Deutschen namens Michael wird Tatjana unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Das Motiv des Nicht-Zuhause-Seins in einer Welt des permanenten Umbruchs wird in diesem Roman mit großer Eindringlichkeit in Szene gesetzt. Ein Symbol dafür ist Edis aufgebrochene Wohnungstür. Dass der Einbrecher in ihrer Wohnung nichts gefunden hat, was das Mitnehmen gelohnt hätte, empfindet ihre Mutter als besondere Kränkung, als wäre es die Bestätigung der Wertlosigkeit der eigenen Existenz.

Ankunft in der Gegenwart

Weil das Zuhause durch Migration und biographische Brüche an Bedeutung verliert, wird die Familienbindung jedoch umso wichtiger. Das mag erklären, warum dieser kluge Roman so einfühlsam das Vorleben der Eltern und Großeltern ausleuchtet und warum er, sofern überhaupt von einem Plot die Rede sein kann, diesen auf das Familienfest von Lenas fünfzigstem Geburtstag zusteuern lässt.

Man kann das machen; das Familienfest ist ein traditionelles Vehikel, um die Figuren noch einmal zu versammeln und eine gewisse finale Zuspitzung zu schaffen. Aber es ist kaum zu übersehen, dass Salzmann nicht so recht weiß, was sie mit ihren Figuren in der erzählten Gegenwart anfangen soll. Das ist erstaunlich bei einer Autorin, die ursprünglich vom Theater kommt. Das Gelungene des Romans sind die detailsatt erzählten biographischen Linien. Offenbar liegt das Epische Salzmann mehr als das Dramatische.

[Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 383 Seiten, 24 €.]

Zu loben ist die sinnlich konkrete Sprache, die der Fülle der Eindrücke und Gefühle jederzeit gerecht wird. Eigenwillige, allegorisch aufgeladene Bilder kehren wieder und prägen sich ein: Pirosmanis Giraffe, ein ziemlich queeres Tier, das die Grenzen zoologischer Einordnungen überschreiten zu wollen scheint, sowie eine ängstigende Faun-Figur – offenbar ein Symbol bedrohlicher Maskulinität. Zu Recht steht „Im Menschen muss alles herrlich sein“ (übrigens ein Tschechow-Zitat) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es würde überraschen, wenn das Buch nicht in die engere Auswahl der sechs Finalisten käme.

Zur Startseite