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 Mitsuko Uchida
© Reuters

Mitsuko Uchida: Gesang am Abgrund

Mitsuko Uchida spielt sämtliche Sonaten von Franz Schubert. Jetzt ist der Zyklus fast vollendet: Im Kammermusiksaal erklangen D 568, D 784 und, vor allem: D 959

Fast unhörbar sanft setzt Mitsuko Uchida mit dem a ein, Grundton von Franz Schuberts Sonate D 784, und springt nach einer lang ausgehaltenen halben Note zum e: leere Quinte, wie sie den ganzen gespenstischen ersten Satz prägen wird, der gar nicht auf einem Thema, sondern nur auf einer Formel aufbaut. Dann zieht Uchida die Dynamik an, die Quinten in der rechten Hand klingen plötzlich wie Glockengeläut, ehrfurchtsgebietend, bevor alles wieder im Piano versinkt. Das lyrische Seitenthema wirkt bei ihr nicht lieblich, eher dramatisch, sie spielt mit den Differenzen, zerteilt die Dynamik, lässt Farben wie im Kaleidoskop schimmern.

Es ist die große Kunst der Britin, die am 20. Dezember ihren 70. feiert, sich bei all dem im Kammermusiksaal ganz zurückzunehmen, nie plakativ in den Vordergrund zu spielen. Und dennoch beim Hörer das Gefühl zu hinterlassen, es müsse alles genau so sein. Weil ihre Interpretationen aus dem Inneren heraus leuchten und von einem tiefen Wissen um Schubert durchdrungen sind, wirken sie schlüssig – trotz oder gerade wegen ihrer Unaufdringlichkeit.

Exkursion durch den Sonatenkosmos

Jetzt steht Uchida kurz davor, ihre Exkursion durch Schuberts Sonatenkosmos zu vollenden. Dass schon in der frühen Es-Dur Sonate D 568 zu spüren ist, was Schubert später so unverwechselbar und einzigartig gemacht hat – die Fröhlichkeit, das Derbe, wobei Trauer, Melancholie und die Ahnung eines Abgrundes immer schon mitschwingen –, das wird bei ihr völlig nachvollziehbar.

Dann, nach der Pause: D 959, die mittlere der drei großen letzten Sonaten. Uchida fühlt sich restlos zu Hause in dieser Musik, spielt saftig, füllig, mit kleinen Rubati, glitzernden Läufen, fröhlichen Sprüngen und einem chopinhaften Andantino, das aus der Nacht zu kommen scheint, aus dem hie und da ein Forte, ein entlegener Störakkord wie ein Lichtblitz herausragt. Uchida, Meisterin der gestalteten Stille: Welche unglaubliche Kraft und Spannung stecken bei ihr selbst noch in den dahingehauchtesten Pianissimi- Passagen. Große Klangarchitektur, die überzeugt, weil sie bis ins Kleinste durchdacht ist. Das liebliche Thema des finalen Rondos, dessen Charakter Schubert durch Umspielungen modifiziert, wirkt bei ihr eher poetisch-verwischt als kristallin- klar, wie es wohl ein András Schiff spielen würde. Durch den unablässigen Puls bekommt die charmante Melodie aber etwas juveniles, so als würde ein Kind durch einen Garten toben . Eine letzte Zäsur, der Saal hält den Atem an – und erlösender Jubel. Am Freitag wird Mitsuko Uchida mit D 960, der letzten und beeindruckendsten Sonate, die Schubert geschrieben hat, den Zyklus vollenden.

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