Werke des frühen sowjetischen Kinos: Geist der Revolution
Der sowjetische Film der 20er und 30er Jahre ist hierzulande wenig bekannt. Die DVD-Edition „Der neue Mensch“ versammelt ausgewählte Werke.
Kunst und Literatur der frühen Sowjetunion sind im Westen immer besser bekannt. Ein nicht endender Strom von Ausstellungen und eine Fülle von Publikationen haben mittlerweile ein beachtliches Informationsniveau geschaffen. Beinahe umgekehrt verhält es sich mit dem Film. Der sowjetische Film der zwanziger und dreißiger Jahre ist höchstens Spezialisten bekannt, während in der Zeit der Weimarer Republik die Kenntnis über das neue Russland ganz besonders über den Film vermittelt wurde. Die Deutsche Kinemathek z.B. hat erst vor fünf Jahren mit der Berlinale-Retrospektive „Die rote Traumfabrik“ auf die Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Arbeiterhilfe in Berlin und dem Moskauer Filmstudio Rus in den zwanziger Jahren aufmerksam gemacht.
Nun gibt der Suhrkamp Verlag, der vorsichtige Schritte über den Print-Bereich hinaus unternimmt, in seiner Reihe „Filmedition“ Einblicke in das sowjetische Filmschaffen dieser Zeit. Unter dem Titel „Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland“ hat der Münchner Filmhistoriker Alexander Schwarz, der schon 2012 die „Traumfabrik“-Auswahl verantwortete, auf zwei DVDs acht Filme zusammengestellt, die die Breite der damaligen Produktion vom Dokumentar- über den Spiel- bis zum Animationsfilm repräsentieren. Das in der begleitenden Broschüre umkreiste Thema des „Neuen Menschen“ erweist sich dabei als wenig hilfreich. Denn einerseits sollte natürlich alle Kulturproduktion – und der Film spielte für die Bolschewiki eine zentrale Rolle – das „Neue“ und eben den erhofften „neuen Menschen“ propagieren; andererseits verbergen sich hinter den Titeln durchaus traditionelle Genres wie etwa der Liebesfilm.
Den Auftakt bildet Dsiga Wertows Dokumentar-Montage „Prawda 18“ von 1924; ein Höhe- und wohl schon Endpunkt des Konstruktivismus mit seinen überraschenden Schnitten und Überblendungen. Inhaltlich allerdings erweist sich, dass der „neue“, im Film tatsächlich neugeborene Mensch ausschließlich als künftiger Proletarier und als Rädchen im Räderwerk der voll mechanisierten Fabrik gesehen wird. Das war nun tatsächlich Utopie. Der „alte“ Mensch widerstand der gesellschaftlichen „Umschmiedung“, wie 1927 „Bett und Sofa“ (im Original: „Dritte Kleinbürgerstraße“) von Abram Room nach dem Drehbuch von Wiktor Schklowskij zeigt. Der seinerzeit heftig kritisierte kleinbürgerliche Anstrich der Moskauer Souterrainwohnung spiegelt vor allem den Wunsch nach Normalität, der die „Neue Ökonomische Politik“ prägte.
Die Erinnerung an Welt- und Bürgerkrieg ist höchst lebendig, wie „Der Mann, der das Gedächtnis verlor“ von Fridrich Ermler aus dem Jahr 1929 zeigt. Filmisch vielleicht das anspruchsvollste der bei Suhrkamp versammelten Werke. Die Rückkehr eines traumatisierten, buchstäblich aus der Zeit gefallenen Soldaten ins Leben und in die unterdessen so stark veränderte Welt des Sowjetlandes braucht keinen Vergleich mit heutigen Bearbeitungen des universellen Themas zu scheuen.
Die Begleitbroschüre ist enttäuschend
Einen riesigen Erfolg errang „Der Weg ins Leben“ von Nikolai Ekk aus dem Jahr 1931, der erste sowjetische Tonfilm überhaupt. Er handelt vom Schicksal der streunenden Kinder, die zu Millionen als Kriegswaisen auf den Straßen lebten. Mitte der zwanziger Jahre wollte ausgerechnet der Gründer der politischen Geheimpolizei, Feliks Dserschinski, ein Netz von „Arbeitskommunen“ errichten, um die Strolche zu sozialistischen Menschen zu erziehen. Der Pädagoge Anton Makarenko, auf den sich der Titel des Films bezieht, schuf modellhaft solche Kommunen und war später beim NKWD, dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, für diese Lager zuständig. Im Film wird gezeigt, wie es dem idealistischen, zugleich als jungen Proletarier idealtypisch gezeichneten Kommune-Leiter nach Überwindung dramaturgisch erwartbarer Schwierigkeiten gelingt, seine Jugendlichen tatsächlich zu sozialistischen Menschen zu erziehen.
In vergleichbarer pädagogischer Absicht drehte Dawid Marjan im selben Jahr „Das Leben in der Hand“, der ebenso das Gemeinschaftsleben preist, den trunksüchtigen Abweichler jedoch aus allen sozialen Netzen fallen lässt. Pädagogisch ist auch der 15-minütige Puppenspielfilm „Beherrscher des Alltags“, der Sauberkeit als Mittel gegen Ungeziefer propagiert. Er entstand 1932, als mit der Feier zum 15. Jahrestag der bolschewistischen Revolution der Umschwung zum Stalinismus allgegenwärtig wurde.
Die Begleitbroschüre gibt die wichtigsten Daten zu den Filmen wieder, der Einleitungstext indessen malt die Sowjetgeschichte ein bisschen zu (rosa-)rot. Da hat Suhrkamp offenkundig die richtige Balance zwischen DVDs und Print noch nicht gefunden. Ein Begleitbuch von der Qualität der „roten Traumfabrik“ (2012) im Verlag Bertz + Fischer wäre hier notwendig gewesen.
Alexander Schwarz, Rainer Rother (Hrsg.): Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 2 DVDs, zus. 412 min. Begleitheft, 29,90 €.
Bernhard Schulz
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