Retrospektive: Die Hutmacher der Revolution
Science-Fiction, Animation und Propaganda: In der Retrospektive „Die rote Traumfabrik“ laufen Klassiker und Wiederentdeckungen des deutsch-russischen Meschrabpom-Studios.
Im Sommer 1900 fuhren die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé und ihr junger Geliebter Rainer Maria Rilke nach Russland. Lenin nahm zur selben Zeit die andere Richtung: Entlassen aus der Verbannung! 23 Jahre später trauert die Petersburgerin um ihr Heimatland, in dem „während der Hungerverzweiflung die kleinen Kinder aus den Wolgadörfern (unsern Dörflein, Rainer!) fortliefen in die Wälder, um nicht gegessen zu werden“.
Sie schreibt diesen Brief im März 1923. Im selben Monat kommt es zu einer folgenreichen Begegnung zwischen einem Berliner Bekannten Lenins und dem Inhaber des letzten privaten Filmstudios Sowjetrusslands. Er heißt Moisej Alejnikow und war im Sommer zuvor in Berlin eingetroffen, im Koffer die einzige Kopie der in seiner Heimat unverkäuflichen Tolstoi-Verfilmung „Polikuschka“, gedreht während des Bürgerkriegs in ungeheizten Ateliers. Die Schauspieler hungerten und froren, und vielleicht wollten die hungernden und frierenden Russen tatsächlich im Kino eins auf keinen Fall sehen: hungernde und frierende Russen. Kritiker reagieren gemeinhin anders. Alfred Kerr sprach von einem „bisher nicht gekannten Sieg der Echtheit“. Nach einem beispiellosen Erfolg in Berlin kehrte Alejnikow zurück in sein Versuchsland der Weltgeschichte: mit viel Rohfilm im Gepäck und Fritz Langs „Nibelungen“, Murnaus „Die Finanzen des Großherzogs“ und Lamprechts „Buddenbrooks“. Vor allem aber mit einem Vertrag.
Lenins Züricher Bekannter, der deutsche Kommunist Willi Münzenberg hatte in dessen Auftrag die Internationale Arbeiterhilfe gegründet, russisch: Meschdunarodnaja Rabotschaja Pomosch. Und genauso hieß nun das neu gegründete deutsch-sowjetische Studio, kurz: Meschrabpom-Film. Alejnikows Problem – Wie kann ich im Sozialismus leben und mein Privateigentum trotzdem behalten? – war gelöst.
Der Status einer Aktiengesellschaft gab dem Studio viel Spielraum für Eigenes, und den nutzte es 600 Filme lang, was ihm den Ruf einer „roten Traumfabrik!“ eintrug. – Kurz, die diesjährige Retrospektive hebt einen der wohlverborgensten Schätze der Filmgeschichte, denn auch in der späteren Sowjetunion war der Name des Studios tabu: Der Meschrabpom-Mitgründer, der kommunistische Millionär und Medienzar Münzenberg galt als Verräter. Wäre er sonst vor den Nationalsozialisten nach Frankreich statt in die Sowjetunion geflohen?
Wer sich nun vor Hungerfilmen und „agitki“ – Agitprop-Kino – fürchtet, darf aufatmen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagte der große Kino-Feind Hermann Hesse, und er hat trotzdem recht. Wie viel Spiel, wie viel Traum, wie viel Fantasie ist hier und: wie viel ästhetische Avantgarde!
Der Sozialismus und das Kino waren zwei Neuheiten, zwei Experimente, nur dass das eine besser ausging als das andere. Gleich im ersten „Meschrabpom“- Jahr drehte Jakow Protasanow mit „Aelita“ einen der ersten Science-Fiction- Filme überhaupt. Der Moskauer Ingenieur Loss empfängt eine Nachricht aus dem Weltraum: „Anta Odeli Uta“. Die schickten die Marsmenschen. Sie sehen aus wie Japanerinnen, denen es nicht gelungen ist, einen spontanen Aufstand ihrer Haarnadeln niederzuschlagen. Sie verselbstständigen sich zu immer neuen futuristisch-filigranen Arrangements. „Aelita“ setzte die Maßstäbe fürs Zukunftsdekor im Film, auch wenn niemals wieder der Sozialismus auf den Mars exportiert werden sollte. Oder wollte der Ingenieur ihn nur loswerden?
Das Bekenntnis der Meschrabpom- Filme lautet: Nichts geht über den Erfolg beim Publikum, schon gar nicht die Revolution. Und doch hat das Studio mit Pudowkins „Konez Sankt-Peterburga“ („Das Ende von Sankt-Petersburg“) einen der großen Revolutionsfilme hervorgebracht. Was für Schnitte! Was für Kamerablickwinkel! Was für Montagen! Was für Massenszenen! Und was für ein fast stiller Schluss, ideologisch und jenseits aller Ideologie zugleich. Entstanden 1927, zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution. Doch im selben Jahr drehte Pudowkin auch „Schachmatnaja Gorjatschka“ („Schachfieber“), eine übermütig-verspielte, überaus komische optische Erkundung des Verhältnisses von Schach und Kino. Und Boris Barnets wunderbare Stummfilmkomödie „Dewuschka s korobkoi“ („Das Mädchen mit der Hutschachtel“), ebenfalls von 1927, lässt uns beinahe glauben, die Nachfolgeprobleme der Revolution fassen sich in der Frage zusammen: Und welchen Hut trage ich morgen?
Die Filmhistoriker Günter Agde und Alexander Schwarz haben diese Retrospektive möglich gemacht. Viele Filme, sagt Agde, sind überhaupt erst nach 1990 wiederentdeckt worden, seine größte Überraschung war das Animationskino. Und Dokumentarfilme wie „Vierzig Herzen“, der die These „Kommunismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung des ganzen Landes“ ins Bild fassen soll.
Die Meschrabpom-Tonfilme der Dreißiger spielen oft im real existierenden Kapitalismus, den die sowjetischen Regisseure ungefähr so gut kannten wie Karl May den Wilden Westen. Die Sozialfaschismus-These dagegen kannten sie gut. Das Resultat ist oft kurios. Und trotzdem ist die Schicht des Authentischen fast immer stärker. Ohnehin handelt es sich beim Propagandafilm um eines der unterhaltsamsten Genres, vielleicht mit Ausnahme von „Tri Pesni o Lenine“ („Drei Lieder über Lenin“), den man damals ausgerechnet dem US-Botschafter zeigte.
Am Ende von Meschrabpom stand einer der ersten Roboterfilme. Aleksandr Andrijewskis „Gibel sensazii“ spielt der Glaubwürdigkeit halber in Amerika. Die vom Menschen desillusionierten Roboter verlassen die Fabrik – welch Massenszene der dritten Art! – und verschwinden mitsamt der Zukunft im Wald. Ein Jahr später zerschlägt Stalin Meschrabpom.
Cinemaxx 8, Zeughauskino
Der Russe Moisej Alejnikow und der Deutsche Willi Münzenberg gründeten die Firma 1922
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