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Feucht gebettet. Kirsten Dunst als apokalyptische Himmelsbraut in Lars von Triers Weltuntergangsfilm „Melancholia“.
© dpa

Wasser, Tod und Sehnsucht: Gefährlich schön

Sehnsuchtort und tödliche Bedrohung: Das Wasser ist für die Menschheit das aufregend Andere. Ein Gang in die Fluten der Kulturgeschichte.

Da unten ist’s fürchterlich. „Und es wallet und siedet und brauset und zischt.“ Schillers Taucher hat erfahren, wie es da ist, im tiefen Schlund des Meeres. Es hat ihn behalten.

Weich wiegt das Wasser, es rieselt und rinnt, es schmeichelt und schaukelt, es umarmt und deckt einen zu.

Und dann weht die rote Flagge.

Acht Menschen sind in der Ostsee gestorben in der vergangenen Woche. Sechs in Berlin und Brandenburg. So viele wie noch nie in so kurzer Zeit. Nicht zu sprechen von den gerade noch Geretteten. Jedes Jahr kommen auf der Welt etwa 20 000 Menschen bei Badeunfällen ums Leben. Das Wasser steht uns bis zum Hals.

Das Wasser ist Ursprung aller Dinge. Das glaubte der griechische Philosoph Thales von Milet. Es liegt vor den Augen, es glitzert und funkelt und ist die Freundin des Sonnenlichts. Es zieht uns an, nicht nur der Kühlung wegen, hinaus ins Blau. Weil es der Gegenentwurf zu unserem Alltag ist. Da regiert das Feste, das Unumstößliche, das Konkrete. Wasser hat keine Form, ist nicht zu fassen, ist in Bewegung, mal schnell, mal langsam, ist seidenglatt, ist heiter gekräuselt. Wasser wechselt die Farbe. Wasser ist das Verführerische. Und zaubert ein ganzes Arsenal von Nymphen und Nöcken, von Meerjungfrauen und Undinen hervor. Wasser ist Sex. Ist hautnah. Die Traumdeutung weiß es längst. Sich verströmen. Eintauchen. Ins Schwimmen kommen. Ertrinken in ozeanischen Gefühlen.

Das Wasser war schon immer Menschheitsziel

Und doch sind die Herren des Wassers, Poseidon und Neptun, nie freundliche Gesellen gewesen. Haben die Skylla gegen die Charybdis anbrüllen lassen. Haben Tsunamis über die Welt geschickt, die einst noch anders hießen, Odysseus durchs Mittelmeer gejagt, Mare Nostrum, Mare Monstrum. Haben die Menschheit erschreckt, auf dass sie sich nicht vergreife an der Götter nassem Reich.

Und es hat doch nichts genützt. Das Wasser war von Anbeginn ein Menschheitsziel. Nicht nur, weil dort Nahrung zu holen war, sondern weil da auch Zukunft zu entdecken war, Neuland, neue Ufer. Deshalb fanden die Menschen schon frühzeitig heraus, dass sie neben dem Stehen und Gehen noch eine weitere Fähigkeit besaßen. Wenn sie sich schon nicht in die Lüfte erheben konnten wie die Vögel, so vermochten sie doch zu schwimmen wie die Fische. Oder zumindest beinahe so.

Vor 8000 Jahren etwa begann das. Da wurde der Mensch zum Wasserwesen. Höhlenzeichnungen bezeugen es. Die alten Ägypter sind geschwommen und die alten Griechen. Schwimmen galt dort neben dem Lesen als zivilisatorische Grundtechnik. Noch größere Schwimmer waren die Römer. Ihre Soldaten stürzten sich sogar mit ihren schweren Brustpanzern in die Fluten. Besonders tüchtig waren auch die Germanen. Sie entwickelten einen Schwimmstil, der der heutigen Kraultechnik geähnelt haben soll. Neben dem Schwimmen war in der Antike das Baden das größte Freizeitvergnügen einer besitzenden Klasse. Jede Stadt hatte ihre eigenen Thermen, das Leben und die Liebe spielten sich vorzugsweise dort ab.

Weil das Baden und das Schwimmen zwangsläufig mit dem Nackten, dem Feuchten zu tun hatten, machte das aufkommende Christentum all dem bald ein Ende. Auch Jesus ist bekanntlich nicht in den Fluten des Sees Genezareth geschwommen, sondern wandelte über sie hinweg. So wurde das Mittelalter zu einer Anti-Wasser-Ära. Schwimmen galt als gefährlich, weil in den Tiefen Seeungeheuer und Dämonen lauerten. Auch für die Körperhygiene hielt man Wasser für entbehrlich, es war allenfalls zur Füllung von Burggräben gut. Baden war übel beleumundet, und jene Badehütten, in denen Mann und Frau im selben Zuber saßen und sich den Rücken schrubben ließen, waren oft nichts anderes als Bordelle.

1760 wurde in Paris die erste Badeanstalt eröffnet

In der Zeit der Aufklärung begann sich allmählich das Verhältnis zu den Körpern und damit auch zum Schwimmen wieder zu ändern. Badeanstalten wurden errichtet, 1760 in Paris, 1793 in Frankfurt am Main, im selben Jahr eröffnete in Heiligendamm auch das erste deutsche Seebad. Dennoch sollte es noch lange dauern, bis der Tourismus Urlaub und Wasser zu so etwas wie Synonymen machte, bis das Schwimmen zum Breitensport, schließlich gar zum Unterrichtsfach an Schulen wurde. Es entstanden Badelandschaften und hochgerüstete Spaßbäder. Das Wasser wurde zum scheinbar leicht beherrschbaren Element einer Massenkultur.

Wie trügerisch das ist, beweisen nicht nur die neuesten Badeunfälle, beweist nicht nur die brutale Kraft des Wassers bei Überschwemmungen und Sturmfluten. Es zeigt sich auch im suizidalen Topos vom Ins-Wasser-Gehen. Die Beispiele von Selbsttötungen im Wasser sind zahllos, von Virginia Woolf bis zum Schauspieler Ulrich Wildgruber, von König Ludwig II. bis zum Massenfreitod von Demmin 1945, als sich an die tausend Menschen aus Angst vor der Roten Armee kollektiv ertränkten. Auch die Literatur ist voll von Wasserleichen. Hermann Hesses „Unterm Rad“, Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, Richard Wagners „Fliegender Holländer“, die Nymphe Halia, die sich ins Meer stürzt, nachdem sie von ihren sechs Söhnen vergewaltigt wurde. Die Ikone aller Wasserleichen ist Shakespeares Ophelia, die sich das Leben nahm, nachdem sie von Hamlet verschmäht worden war. Männerfantasien haben sich an ihr entzündet, Arthur Rimbauds Gedicht „Ophelia“ beginnt mit den Worten: „Auf stiller, dunkler Flut im Widerschein der Sterne,/geschmiegt in ihre Schleier, schwimmt Ophelia bleich,/sehr langsam, einer großen weißen Lilie gleich.“

All diesen Todesfällen hängt etwas Romantisch-Verklärendes an. Das Sterben im Wasser als ein friedliches Gleiten in eine andere Welt, als tröstlicher Zufluchtsort der Verzweifelten, als Einswerden mit der Natur, als Rückkehr in das Element, aus dem alle stammen.

Die Wirklichkeit des Todes im Wasser ist anders. Ertrinken ist qualvolles Ersticken. Und das Bild der Gestorbenen als Lilie geradezu absurd angesichts der grauenvollen Wirklichkeit von Wasserleichen. Aber auch hier, im Bildnis des Todes, zeigt sich die immerwährende Ambivalenz des Wassers. Es murmelt. Es donnert.

Und so, wie es Leben vernichtet, so erschafft das Wasser Leben. Aphrodite, Venus, die Göttin der Liebe, wird aus dem Schaum der Wellen geboren.

Wolfgang Prosinger

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