„Gott“ am Berliner Ensemble: Frau Gärtner kann nicht mehr
Der Ethikrat tagt wieder: Oliver Reese bringt Ferdinand von Schirachs „Gott“ am Berliner Ensemble zur Uraufführung.
Es gäbe nur ein einziges wirklich ernstes philosophisches Problem, befand Albert Camus; nämlich den Selbstmord. „Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie“, schrieb er im „Mythos des Sisyphos“.
Es gibt für diese Annahme zweifellos gute Gründe. Ob daraus allerdings auch ein Synapsen mobilisierendes Theaterstück wird, steht auf einem anderen Blatt. Im Berliner Ensemble führt die Grundfrage der Philosophie jedenfalls eher zu erhöhter Gliedmaßen- als zu gesteigerter Hirnaktivität. So viele Stand- und Spielbeinwechsel nebst textbegleitender Armruderbewegungen waren auf der Bühne selten zu besichtigen.
Wie im Vorgängerstück "Terror" geht es um eine schwierige Abwägung
Man entwickelt aufrichtiges Mitleid mit den Schauspielerinnen und Schauspielern in Oliver Reeses Uraufführung von „Gott“, dem jüngsten Stück des Juristen und Bestsellerautors Ferdinand von Schirach, das zeitgleich auch in Düsseldorf uraufgeführt wurde.
Denn in der fiktiven „Sitzung des Ethikrates“, die hier zu erleben ist, treten tatsächlich nur beinweiche Thesenträger auf statt denkwürdiger Charaktere. Man kennt das schon aus „Terror“, Schirachs Vorgänger-Abend, der vor fünf Jahren, ebenfalls parallel, am Berliner Deutschen Theater sowie am Schauspiel Frankfurt – dort übrigens ebenfalls von Reese – uraufgeführt worden war.
Man saß damals zu Gericht über einen Piloten der Luftwaffe: Eine von Terroristen gekaperte, voll besetzte Passagiermaschine – so der moralisch dilemmatöse Tathergang – hatte Kurs auf die ausverkaufte Münchner Allianz-Arena genommen und war vom besagten Piloten gegen den Befehl seines Vorgesetzten abgeschossen worden.
Ob der Mann, der damit 164 Menschenleben geopfert hat, um möglicherweise Tausende zu retten, schuldig zu sprechen sei oder nicht, darüber stimmte am Ende, nach zahlreichen schulmeisterlichen Vernehmungen, Zeugenbefragungen und Plädoyers, das Publikum ab.
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Die jetzige Ethikratssitzung folgt demselben Schema, ist aber noch papierener und dünner als das „Justizdrama“. Während in „Terror“, immerhin, noch Moraltheorie à la Immanuel Kant vorkam, konzentriert sich der philosophische Input diesmal auf die erste Seite des Stückes, wo der besagte Camus-Satz zitiert wird.
Was dann 63 Textseiten und, umgerechnet in BE-Bühnenzeit, knappe zwei Stunden lang folgt, ist gemessen daran Komplexitätsreduktion. Von Schirachs Schreibanlass liegt diesmal in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, die medizinische Suizid-Assistenz zu entkriminalisieren.
Nach dem Tod des Mannes hat sie den Lebenswillen verloren
Vom Tisch sei die Frage nach dem freiwilligen Tod damit nicht, meint von Schirach; der richterliche Meilenstein hat den Fokus vielmehr auf ethische Folgefragen verschoben: Wie geht es den Ärzten mit dieser Entscheidungsgewalt? Wo genau beginnt, wo aber endet auch die Autonomie des Individuums? Und wie steht überhaupt die Gesellschaft zu alledem?
Konkret besprochen wird der Fall des Herrn Richard Gärtner, den Reese im BE auf einer stilisierten Treppe mit hölzernem Plenarsaal-Appeal (Bühne: Hansjörg Hartung) zur Frau Elisabeth Gärtner macht. Warum die ehemalige freiberufliche Architektin allerdings mit dem genauen Gegenteil jenes Selbstbestimmtheitsgestus’ auftritt, den sie und ihre Mitstreiterinnen verbal abendfüllend hochhalten, bleibt ein großes Mysterium des Abends – im Übrigen das einzige.
Devot, verdruckst und wie mit einem Sedativum sprechtempogedrosselt erzählt Josefin Platt als 78-jährige Elisabeth, dass sie – wiewohl physisch und psychisch kerngesund – nicht mehr leben wolle, seit sie ihren Ehemann verloren habe. Darüber hinaus hat dessen qualvolles Sterben an den Folgen eines Hirntumors bei Frau Gärtner den Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende verstärkt. Was – rein dramaturgisch betrachtet – praktischerweise den Themenkomplex der Palliativmedizin ins Spiel bringt, den Judith Engel als Rechtssachverständige in Hosenanzug und Turnschuhen erst mal umständlich zu erklären gebeten wird: Ob sie bitte den anwesenden Nichtärzten mal kurz auf die Sprünge helfen könne, was das sei, Palliativmedizin. Das ist nur einer von vielen Momenten, an dem man das Publikum – wie das im Theater immer so schön heißt – an einem Punkt abzuholen gedenkt, den zumindest sein Großteil längst passiert haben dürfte.
[Nächste Vorstellungen 12. und 13. sowie vom 25. bis 27. September]
Dass der Abend so wenig überraschende Denkanstöße produziert, liegt auch daran, dass er keinen Hehl daraus macht, auf wessen Seite er steht. Die Anti-Gärtner-Fraktion wird vor allem von zwei männlichen Möchtegern-Alphatieren verkörpert: der erste richtig und der zweite eher so mittel alt und vorsichtshalber mit dynamischer Hipsterbarttarnung.
Abstimmung über Frau Gärtners Schicksal per Handzeichen
Veit Schubert als „theologischer Sachverständiger“ Thiel und Ingo Hülsmann als extrafieses Aushängeschild der Ärztekammer rennen mit ihren Argumenten vom potenziellen „Dammbruch“ und vom schützenswerten Heiligtum jedweden Lebens vornehmlich gegen Argumente an, die zuvor schon sehr vernünftig von den Sympathieträgerinnen und Sympathieträgern des Abends, Judith Engels Rechtssachverständiger Litten und Frau Gärtners Anwalt Briegler (Martin Rentzsch) entkräftet worden waren.
Kein Wunder, dass die finale Abstimmung überdeutlich ausfällt. Sie wird coronabedingt per Bitte um Publikumshandzeichen vorgenommen, während man bei „Terror“ noch den Saal zur Pause verlassen musste und qua ausgewählter Wiedereintrittstür (rechte oder linke Seite) automatisch ein Votum abgab. Die deutliche Mehrheit ist dafür, dass Frau Gärtner würdevoll medizinisch assistiert sterben darf. Gut möglich, dass es im Ethikrat so zugeht. Für einen Theaterabend hätte man sich aber doch deutlich mehr Camus gewünscht.
Christine Wahl
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