Ferdinand von Schirach im Interview: „Es gibt kein Verbrecher-Gen“
Das ZDF hat „Schuld“ von Ferdinand von Schirach verfilmt. Ein Gespräch über Recht und Gerechtigkeit, „Tatort“ und Richard Wagner.
Herr von Schirach, in der Verfilmung von Episoden Ihres Erzählungsbandes „Schuld“ ist etwas Erstaunliches zu beobachten, nämlich das Comeback der Zigarette. Die Darsteller qualmen alle wie die Schlote. Wie haben Sie das in den Zeiten der Political Correctness hinbekommen?
Das war gar nicht meine Idee, sondern die des Produzenten Oliver Berben. Aber er hat damit recht. Wir sind doch ein wenig hysterisch mit allem geworden – mit dem Rauchen, dem Essen, mit dem Sportfanatismus und unserer Übervorsicht. Heute darf selbst die Comicfigur Lucky Luke nur noch Kaugummi kauen und keine Zigarette mehr rauchen. Vermutlich wird der Staat bald unseren Sex kontrollieren, wir werden umfangreiche Tests absolvieren und sehr komplizierte Hygienevorschriften beachten müssen. Aber tatsächlich ist das Leben nicht so, es ist nicht perfekt, sondern chaotisch. Und genau deshalb ist es interessant.
Sind Sie denn darüber hinaus zufrieden damit, wie Ihre Texte für das Fernsehpublikum aufbereitet worden sind?
Ja, sehr sogar. Es ist beeindruckend, was sich das ZDF mit der Verfilmung von „Schuld“ getraut hat. Es wird wieder zu Diskussionen kommen, zu Widersprüchen und Wutausbrüchen im Internet. Wenn ein Fernsehsender zeigt, dass der angeblich Böse nicht bestraft wird und dass die Fälle nicht so ausgehen, wie man es vom „Tatort“ gewohnt ist, verstößt das gegen alle Regeln. Wir halten so etwas ja kaum noch aus. Als ich im „Spiegel“ einen Text über das Folterverbot im Fall Gäfgen geschrieben habe, bekam ich am nächsten Tag hunderte E-Mails – die meisten drohten mir Folter an. Nun stellen Sie sich vor, dass ein Schuldiger zur Hauptsendezeit davonkommt …
Wie zum Beispiel in der Folge „Volksfest“: Eine Gruppe von Männern vergewaltigt ein junges Mädchen. Einer aber ist unschuldig und informiert die Polizei. Weil die Männer geschlossen schweigen und somit auch der eine Unschuldige nicht zu ermitteln ist, werden am Ende alle freigesprochen. In Ihrer literarischen Vorlage geht das in Richtung einer Proseminararbeit zum Thema „In dubio pro reo“, in der Verfilmung kommt der Fall sehr emotional daher. Ist das in Ihrem Sinne?
Emotionen in der Literatur entstehen nicht durch ihre Beschreibung. Sie entstehen durch die Handlung in einer Geschichte. „Volksfest“ ist so eine Geschichte. Es geht dabei auch um das Erwachsenwerden eines jungen Anwalts. Ich habe sie in vielen Theatern und der Berliner Philharmonie vorgelesen, die Reaktion der Zuhörer ist immer die gleiche – es ist danach vollkommen still. Wir stehen vor dem Entsetzlichen, wir wollen Gerechtigkeit, obwohl wir wissen, dass es sie nicht gibt. In Tokio wurde sie im größten Schauspielhaus in einer Theateradaption aufgeführt – es hatte dort genau die gleiche Wirkung. Offensichtlich scheint es also ein universales Gefühl in den Rechtsstaaten zu sein. Natürlich, ein Professor kann seinen Studenten den Satz „Im Zweifel für den Angeklagten“ erklären. Aber wenn Sie die Geschichte lesen, entstehen in Ihrem Kopf Gesichter, Augen, Hände, Gerüche, plötzlich sehen Sie die Menschen vor sich. Der Film ist natürlich anders, dort sind es vorgefertigte Bilder. Aber dieser Film hat fast die gleiche Wirkung, deshalb ist er gelungen.
Hatten Sie als Jurist ein ähnliches Erweckungserlebnis?
Ja. Und es war tatsächlich das, was ich geschrieben habe: „Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten und dass es keine Rolle spielte …“
Schmerzt es Sie, dass es so oft einen Gegensatz zwischen Recht und Gerechtigkeit gibt?
In einem Strafverfahren müssen Regeln eingehalten werden. Nur diese Regeln, nur die Strafprozessordnung lässt Gerechtigkeit entstehen. Nicht in jedem einzelnen Fall, aber im Ganzen. Heute bin ich mir sicher, dass die Strafprozessordnungen der Rechtsstaaten zu dem Bedeutendsten gehört, was die Aufklärung hervorgebracht hat. Aber Sie haben recht: Es ist nicht immer einfach, mit ihr zu leben. Die Alternative ist jedoch Willkür. Und in einem solchen Staat würde ich nicht leben wollen.
In der Verfilmung Ihres ersten Buches „Verbrechen“ spielt Sepp Bierbichler den Anwalt, bei „Schuld“ ist es Moritz Bleibtreu.
Das ist ein Coup von Oliver Berben. Niemand erwartete Moritz Bleibtreu in so einer Rolle, noch dazu im Fernsehen. Er spielt den Anwalt wunderbar, ganz zurückhaltend, konzentriert, klar und trotzdem verletzbar. Sepp Bierbichler, einer der großartigsten deutschen Schauspieler, konnte die Rolle nicht übernehmen – der Anwalt in „Schuld“ ist ja viel jünger als der Anwalt in „Verbrechen“. Fragen Sie mich bitte nicht, wer den Anwalt besser darstellt, beide sind ja brillant.
Wer kommt Ihrem Bild im Kopf und Ihren persönlichen Erinnerungen näher? In wem erkennen Sie sich besser wieder?
Der Anwalt in den Geschichten ist nur der Erzähler. Er hat nichts mit mir zu tun, er ist die Figur, um die herum die Geschichten passieren. Der Anwalt ist kein Held, er macht nur seine Arbeit. So ist das auch in der Wirklichkeit, den Staranwalt gibt es in Deutschland nicht. Zugegeben, ich habe mir so etwas früher auch ganz gern im Fernsehen angeschaut. Petrocelli, vor 30 Jahren am Freitagabend. Herrlich!
Das ZDF wirbt für „Schuld“ mit dem Slogan: „Der Täter ist in uns allen“. Welcher Täter steckt denn in Ihnen?
Es gibt kein „Verbrecher-Gen“, nichts, was Sie oder mich von einem Mörder wirklich unterscheidet. Wir können nicht voraussehen, was wir in ein paar Jahren tun oder in einer Woche oder auch nur morgen. Ohne es zu wissen, biegen wir falsch ab, die Dinge gehen schief und irgendwann kann sie nichts wieder in Ordnung bringen. Das ist schon alles, das ist die ganze Geschichte.
Seit ein paar Jahren haben Sie es nur noch auf dem Papier mit Verbrechern zu tun. Fehlt Ihnen der Strafprozessalltag?
Ich gehe noch in meine Kanzlei, spreche mit den Kollegen, habe ein paar Beratungsmandate. Aber ich übernehme zurzeit keine Hauptverhandlungen. Ich war 20 Jahre vor Gericht, ich glaube, ich habe das meiste gesehen. Und das ist ja das Schöne an unserer Zeit, wir sind nicht wie unsere Eltern festgelegt, ein Leben lang nur einem Beruf nachzugehen. Ich bin gerne Strafverteidiger. Und ich bin gerne Schriftsteller. Ich habe mit beiden Berufen viel Glück gehabt. Vielleicht werde ich nun etwas ganz anderes schreiben oder etwas ganz anderes machen.
Zum Beispiel?
Ich weiß es nicht. Im letzten Jahr habe ich ein Theaterstück geschrieben. Das Stück heißt „Terror“, und darum geht es auch. Vermutlich passt es ganz gut in die Zeit, obwohl ich es vor den Anschlägen in Paris geschrieben habe. Die Uraufführung wird jedenfalls im Herbst sein und so wie es aussieht, in mehreren Häusern gleichzeitig.
Strafprozesse sind wie Theater: Auf beiden Bühnen wird die Wirklichkeit nachgespielt. Früher haben Sie vor Gericht nur die Rolle des Verteidigers gespielt. Jetzt können Sie alle Rollen selbst besetzen und entscheiden, wie das Stück ausgeht. Hat der Schriftsteller von Schirach schon mal einen Fall anders enden lassen, als ihn der Anwalt von Schirach erlebt hat?
Keine der Geschichten ist so passiert, wie ich sie geschrieben habe – das ginge schon deshalb nicht, weil ich das Anwaltsgeheimnis achten und meine Mandanten schützen muss. Aber die einzelnen Teile der Geschichten sind wahr, sie sind nur neu zusammengesetzt. Und schließlich: Was eigentlich ist Wahrheit? Eine 2000 Seiten umfassende Akte oder eine Kurzgeschichte auf zwölf Seiten? Wichtig ist nur, dass man über das schreibt, was man wirklich kennt. Geschichten werden genau dadurch lebendig und damit werden sie wahr. Truman Capote schrieb den Roman „Kaltblütig“: Alles darin ist so passiert, ja, aber es ist kein 1:1-Abbild der Wirklichkeit, es ist Literatur. Heute würde jemand wie Capote vermutlich fürs amerikanische Pay-TV schreiben.
Fürs Pay-TV?
Natürlich. Schauen Sie sich einmal „True Detectives“ oder „Breaking Bad“ an. Die Autoren nehmen sich Zeit, sie entwickeln ihre Figuren wie in einem Roman, sie werden lebendig. Genau so etwas würde Capote heute machen. Richard Wagner würde jetzt einen 300-Millionen-Dollar-Musikfilm über den Wolken inszeniere – das ist das moderne Gesamtkunstwerk und nicht die Oper in Bayreuth.
Der künstlerische Geist sucht sich andere Ausdrucksformen.
In der Renaissance mussten die Künstler Kirchen ausmalen, in den 20er Jahren in Paris waren sie schon viel freier. Und heute können Sie sich nackt in ein Museum setzen und Besucher anstarren. Es geht nicht um die Plattform, es geht immer nur um den Inhalt. Deshalb ist es übrigens auch ganz gleichgültig, ob Sie gedruckte Bücher lesen oder die gleichen Texte auf einem elektronischen Reader.
Und Sie? Wie haben Sie sich als Künstler in die Verfilmung Ihrer Geschichten eingebracht?
Filme sind eine andere Kunstform als Literatur. Die Drehbuchautoren, die Regisseure, Schauspieler und Produzenten müssen frei sein, ein Schriftsteller, der dauernd reinredet, ist schrecklich. Das ist auch eine Frage des Respektes. Wissen Sie, was Umberto Eco gemacht hat, als „Der Name der Rose“ verfilmt wurde? Er hat Bernd Eichinger sein Buch gegeben und gesagt: „Das ist der Stoff, ich gehe jetzt!“ Und dann hat er sich den fertigen Film im Kino angeschaut.
Das Gespräch führte Sven Goldmann
„Schuld“, ZDF, 20. Februar, 21 Uhr 15
Ferdinand von Schirach arbeitet als Rechtsanwalt und Buchautor in Berlin. 2014 publizierte er den Essayband „Die Würde ist antastbar“, „Verbrechen“ erschien 2012, „Schuld“ 2010.
Neue Wege beim ZDF: Erst in die Mediathek
Das hatte es beim ZDF zuvor noch nicht gegeben. Der Mainzer Sender hat die sechsteilige Serie „Schuld“ nach dem Roman von Ferdinand von Schirach zwei Wochen vor der Ausstrahlung im Fernsehen an diesem Freitag komplett in seine Mediathek gestellt. Mit Schuld etabliere man erstmals eine „eigenständige Angebots- und Ausspielform“, hat dies ZDF-Programmplaner Martin Berthoud begründet. In gleicher Weise will der Sender im März mit der vierteiligen europäischen Krimi-Koproduktion „Das Team“ verfahren, die ebenfalls zuerst in der Mediathek läuft. Die Bereitstellung einer kompletten Serie wird als Binge-Watching bezeichnet und wurde von Online-Videotheken wie Netflix eingeführt. Auch in Deutschland erfreuen sich Streaming-Dienste großer Beliebtheit: Mehr als ein Viertel der 14- bis 29-Jährigen nutzen sie gelegentlich, ergab die ARD/ZDF-Onlinestudie 2014. Und über 50 Prozent schätzen die Mediatheken der Sender. Tsp
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