"Zwischen den Zeilen" im Kino: Firlefanz auf dem Vulkan
In Olivier Assayas’ Komödie „Zwischen den Zeilen“ schmort der Literaturbetrieb im eigenen Saft.
Redesturzbäche ohne Unterlass. Heftige Überzeugungen auf wackligem Grund. Ein pariserisch beschleunigter Strom kleiner Meinungen mit großem Aplomb, eingebettet in ein Netz von Lügen, Selbsttäuschungen und Heucheleien. Die Figuren von Olivier Assayas plappern und plaudern sich durch ihre Tage, als wär’s ein Film von Eric Rohmer. Und weil sie alle schon von Berufs wegen Männer und Frauen des Wortes sind, rauscht es ihnen doppelt ungehemmt über die Lippen. „Zwischen den Zeilen“ („Doubles Vies“) ist eine aufgekratzte Momentaufnahme aus der Mitte eines Literaturbetriebs, der damit kämpft, dass die digitale Revolution an der Abschaffung seiner vertrauten Daseinsgrundlage arbeitet.
Seine in ihrem Selbstverständnis angezählten Helden hauen sich dabei so ziemlich alles über den Untergang der Gutenberg-Galaxis um die Ohren, was aufmerksame Zeitgenossen längst wissen dürften. Dazu gehört auch die beliebte Frage, ob die wachsende Bedeutungslosigkeit der Literaturkritik, das Geschwätz der sozialen Medien, die explodierenden Fake News und was sonst noch alles an Stichworten aufgeboten wird, nicht Vorläufer haben, die das Umstürzlerische zumindest ein Stückchen relativieren.
Überforderung durch Dauerkommunikation
Assayas’ erklärtes Interesse an den neuen Prozessen der Meinungsbildung und der anthropologischen Überforderung durch die drohende Dauerkommunikation sollte man jedenfalls nicht zu hoch bewerten. Unter der Oberfläche von „Zwischen den Zeilen“ schlägt nämlich das Herz einer romantischen Komödie, in der jeder jeden betrügt. Das kulturkritische Raisonnement ist vor allem das Schmiermittel, das den Verwicklungen ihren Charakter gibt. So wie Ärzte auf Partys den Kollaps des Gesundheitswesens beschwören und Milchbauern über das Sterben der Höfe jammern, tauschen sich hier einige herausgehobene Exemplare der französischen Buchbranche über ihre zweifelhafte Zukunft aus und stürzen sich in Affären, um wenigstens privaten Trost zu erlangen.
Assayas trifft diese Gemengelage milieusicher – weitaus besser als 2014 in dem Drama „Die Wolken von Sils Maria“, in dem er sich unters Schauspielervolk begab. Und er setzt ein Ensemble in Szene, dessen Chemie rundherum stimmt, auch wenn nicht jede Konstellation auf der Hand liegt. Was zum Beispiel zieht Selena (Juliette Binoche), die schauspielernde Frau des smarten Verlegers Alain (Guillaume Canet), an Léonard Spiegel (Vincent Macaigne) an, dem knuddelbärig-neurotischen Schriftsteller?
Die Dinge erwischen ihn immer auf dem falschen Fuß – die Überraschung eingeschlossen, dass Selena ihn nach sechs Jahren abserviert. Aber auch Léonard führt an der Seite seiner Freundin Valérie (Stand-up-Comedian Nora Hamzawi) ein Doppelleben, das sich durch ihre ständige Abwesenheit als PR-Assistentin eines Abgeordneten nur beziehungsverträglich organisieren lässt. Und Alain ergründet das Kommende, indem er sich seiner jungen Digitalisierungsbeauftragten Laure (Christa Théret) zuwendet, die eigentlich Frauen liebt.
Juliette Binoche spielt den Star einer Actionserie
Sie alle haben ihre empfindlichen Stellen: Selena als Star einer Polizeiserie namens „Collusion“, deren Actiongetümmel sie sich mit der Behauptung schönredet, sie spiele darin keine „flic“, sondern eine „Expertin für Krisenmanagement“. Bei Léonard genießt sie vielleicht die Nähe der hohen Literatur. An Verständnis fehlt es ihr nur für die Retuschen in seinen Autofiktionen – weil sie auch sich darin wiedererkennt. Léonard, klagt sie, habe einen Blowjob im Kino geadelt, indem er ihn statt bei „Star Wars“ bei Michael Hanekes „Weißem Band“ habe stattfinden lassen.
Selena ist nicht die Einzige, die nicht damit zurechtkommt, wie hartnäckig er sein eigenes Leben ausbeutet, es mal verfremdet und dann wieder allzu kenntlich macht. Léonards Ex-Frau etwa sieht sich in seinem jüngsten Roman „Point Final“ bloßgestellt, wobei ihr das Shitstorm-Tribunal der sozialen Medien beispringt, ohne dass er die Attacken mitbekommt.
Das Drama flirrt unaufgeregt vor sich hin
Der englische Titel von „Zwischen den Zeilen“ heißt nicht zu Unrecht augenzwinkernd „Non-Fiction“. Eine Bezeichnung, die auf die metafiktionale Spitze getrieben wird, wenn es einmal heißt, eine gewisse Juliette Binoche solle doch Léonards unveröffentlichten Roman einlesen, um ihm die nötige Popularität zu verschaffen. Das alles flirrt plotarm, aber pointenreich vor sich hin. Léonard als sich an die Werte der alten Zeit klammerndes Element ist dabei komischer, aber nicht weniger lächerlich als Alain.
Kameramann Yorick Le Saux, Assayas seit dem Eurotrash-Thriller „Boarding Gate“ (2007) verbunden, hat „Zwischen den Zeilen“ im Wechsel von nahen und in die Distanz springenden Einstellungen auf Super-16mm-Film sein nervöses Gesicht gegeben. Man muss sich nicht für die Sorgen der Buchbranche interessieren, um an diesem schwerelosen Stück Kino, das Assayas’ Werk eine weitere unerwartete Wendung gibt, sein Vergnügen zu haben. Oder fällt dieser Blick von außen dann schon unter Schadenfreude?
Im Cinema Paris, fsk, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei (teils OmU)
Gregor Dotzauer
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität