Interview: „Ich glaube an radikale Akte“
Der französische Regisseur Olivier Assayas spricht im Tagesspiegel-Interview über die Geschichte der Linken, die Entpolitisierung der Jugend und seinen neuen, autobiografischen Film „Die wilde Zeit“.
Olivier Assayas, 1955 in Paris geboren, gehört mit bisher 14 Spielfilmen sowie Dokumentationen und Kurzfilmen zu den produktivsten Regisseuren seiner Generation. Bevor er 1986 mit Lebenswut (Désordre) debütierte, war er fünf Jahre lang Kritiker der "Cahiers du Cinéma". Zuletzt erzählte er 2010 im TV-Mehrteiler Carlos – Der Schakal die Geschichte des Terroristen Ilich Ramírez Sánchez. Der Film kam auch in einer Kinofassung heraus. Auch sein neuer Film Die wilde Zeit erzählt von den siebziger Jahren, er trägt autobiografische Züge. Sein Essay „Une adolescence dans l’après-Mai“, der auch über seine Familie Auskunft gibt, ist auf Englisch bei Synema in Wien erschienen (A Post-May Adolescence, 104 S., 14 €).
Monsieur Assayas, „Die wilde Zeit“ erzählt von der Überlegenheit des Privaten über das Politische. Ist das eine persönliche Erfahrung, die Sie mit der Linken der siebziger Jahre gemacht haben, oder eine anthropologische Feststellung?
Meine künstlerische Berufung hat mich vor viel Leid gerettet, das die zu ertragen hatten, die damals tiefer in die Politik verstrickt waren. Einigen Freunden, die die Schule hinwarfen und in Landkommunen zogen, ging es gut damit, aber es waren die wenigsten. Als Ende der Siebziger das große Erwachen kam, war es für sie hart und grausam. Mich hat immer eine gewisse Distanz vor bösen Überraschungen geschützt.
Auch als Filmemacher tragen Sie politische Ideen in die Öffentlichkeit. Was heißt das für Sie?
Es geht um etwas Intimes, das man mit anderen teilen kann. Wer mit Politik umgeht, hat mit klaren Ideen zu tun. Wer eine Kunst ausübt, hat mit widersprüchlichen, mit mysteriösen, ja vielleicht obskuren Ideen zu tun. Er darf mit mehreren Stimmen sprechen.
Fühlen Sie sich manchmal noch zum politischen Eingreifen motiviert?
Nein, ich lese Zeitung, ich habe meine Vorstellungen von Gesellschaft, aber ich verrichte keine Basisarbeit mehr. Habe ich sie jemals geleistet? Ich fühlte mich als Militanter, gehörte aber zum Fußvolk. Ich war ein Jugendlicher, der die Taten der vorherigen Generation nachäffte. Die Älteren waren die Parteichefs, sie machten die Zeitungen und erledigten die Agitationsarbeit.
Von der heutigen Jugend behaupten Sie, dass sie sich außerhalb der Geschichte bewege, in einem gleichermaßen statischen wie zyklischen Zustand. Was meinen Sie damit?
Die siebziger Jahre waren in dem Sinne hegelianisch, als es einen Glauben in die Zukunft gab, ein Vertrauen in die Transformation der Welt. Den haben wir verloren. Von einer Welt, die eine Vergangenheit und eine Zukunft hatte, haben wir uns in eine Welt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft begeben. Ich muss nur an meine Schauspieler denken: alles intelligente, gebildete Leute, die sich selbst für radikal halten. Ich mochte sie, sie mochten mich, aber meine Ideen konnte ich ihnen nicht vermitteln. Weder meine Traditionen als Kinoregisseur: Sie haben keine Probleme mit Mainstream und Junk. Noch meine Werte als politisch geprägter Mensch: Sie konnten nicht begreifen, dass wir Ideen liebten und die materielle Welt hassten, während sie ihr Geld für Computer und Handys und alles Mögliche ausgeben und die großen Ideen scheuen. Wobei ich nicht einmal sagen will, dass sie damit falsch liegen.
Wurde Attac nicht 1998 in Frankreich gegründet? Und sind nicht die antikapitalistischen Bewegungen, die sich nach dem ersten Finanzkollaps 2007/2008 formierten und in David Graeber einen theoretischen Kopf fanden, der Gegenbeweis?
Ich habe die Pariser Aktivisten von Occupy besucht, und ich hatte fast Tränen in den Augen. Sie machen die verblassten Ideale der damaligen Bewegung wieder sichtbar. Die Militanten von heute sind aber sehr viel pragmatischer. Die Leute von Occupy behaupten zwar, kein Programm zu haben, aber für mich sind ihre Ziele viel klarer als die der alten Linken.
Sie agieren nur in einer ungleich geisterhafteren Umgebung. Der Gegner ist kaum mehr sichtbar.
Ja, damals war die Gesellschaft mit ihren Autoritätsfiguren noch sehr archaisch verfasst. Und es gab einen weiteren Gegner: die Sowjetunion und die KPF.
War das die explosive Mischung, die zum Mai 1968 führte?
Der Mai 1968 flog allen um die Ohren. Bis heute kann niemand genau erklären, warum es dazu kam. Es war keine linke, sondern eine libertäre Bewegung. Doch 1969 beschlossen linke Strömungen, dass der Aufstand gescheitert war, weil es an einer revolutionäre Avantgarde mangelte, die alles strukturieren konnte. Auf einmal hatte jeder seine eigene Zeitung, es gab mindestens drei trotzkistische und drei maoistische Gruppen. Wir setzten uns also mit der Geschichte der russischen Revolution auseinander, lasen Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg und über China. Wir taten alles, um der Gegenwart einen Sinn zu verleihen. Eine Revolution wäre so etwas wie das krönende Ereignis gewesen. Aber sie ließ auf sich warten. Die Unterschiede wuchsen, und manche begaben sich in die Falle des Terrorismus.
Mein Vater, Jacques Remy, war Assistent von Max Ophüls
Auch einige alte Helden liefern der Linken noch Stichworte, zum Beispiel Ihr Landsmann, der gerade in Deutschland populären Alain Badiou und seine „kommunistische Hypothese“.
Vergessen Sie Badiou! Er ist ein völlig unmaßgeblicher Stalinist. In den siebziger Jahren feierte er den albanischen Diktator Enver Hodscha als bedeutenden Denker! Wichtig ist für mich die Frankfurter Schule und ihr Umkreis. Nichts forderte im Herzen des Mai 1968 die postindustriellen Gesellschaften mehr heraus als das Denken von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse.
Welche Rolle spielt in dieser Ahnenreihe denn Ihr Vater, der Drehbuchautor Jacques Rémy?.
Als junger Mann kam die Politik zu ihm. Seine jüdische Herkunft ließ ihm allerdings auch keine große Wahl. Während der Mussolini-Ära war er in Mailand ein militanter Antifaschist. Er lief zwar nicht Gefahr, in ein Lager zu kommen, aber es war kein Spaß, ständig mit prügelnden Faschisten rechnen zu müssen. Als er 1936 nach Paris kam, traf er auf viele deutsche Emigranten und gehörte als Assistent von Max Ophüls zu einem erlesenen Kreis. Im Zweiten Weltkrieg diente er in der französischen Armee, konnte 1941 aber glücklicherweise ein Schiff nach Südamerika besteigen.
Das war die von Varian Fry gesponserte Capitaine Paul-Lemerle, an deren Bord auch Anna Seghers, Claude Lévi-Strauss, André Breton und der Revolutionär Victor Serge die Freiheit suchten.
Ja, und weil seine erste Frau Argentinierin war, bekam er schließlich einen argentinischen Pass und wurde Informationschef der Françaises Libres, die von Lateinamerika aus den militärischen Widerstand gegen die Deutschen organisierten. Mein Vater hatte also ein ungewöhnlich ernsthaftes, solides und respektables politisches Engagement. Als ich aufwuchs, hatte er sich von der Politik allerdings schon entfernt.
Nach wie vor bedeutsam ist für Sie Guy Debord, der 1994 aus dem Leben geschiedene Mitbegründer der Situationistischen Internationale. Sie haben seine Filme auf DVD herausgegeben und begeistern sich auch für seine Kritik an der Warenökonomie, die erstaunliche Parallelen zur Frankfurter Schule aufweist.
Eigentlich ist er erst in den letzten 15 Jahren zu einer respektierten Figur herangewachsen. Die Bibliothèque National widmet ihm gerade eine Ausstellung. Zu seiner Zeit lasen in Frankreich nur eine Handvoll Leute„Die Gesellschaft des Spektakels“.
Entschärft das den Revolutionär nicht zum Museumsstück?
Er ist ein Klassiker, aber was er sagt, ist so wichtig wie eh und je. Auch Marx wird in der Volkswirtschaft wieder gelehrt. Es geht um Ideen. Debord war immer ein Stratege, und er war besessen von der Gegenwart. Er glaubte, dass alles, was er tat, für den Moment entscheidend ist.
Sie haben mit „Une adolescence dans l’après-Mai“ in der Form eines Briefes an Debords Witwe Alice einen autobiografischen Essay geschrieben, der Ihre politische Erziehung des Herzens schriftstellerisch verarbeitet. Worin besteht für Sie der Unterschied zum Film?
Wenn man einen solchen Essay schreibt, versucht man, sich an den Punkt der eigenen Empfindung zurückzubegeben. In Filmen geht das nicht. Die Erinnerungen an die Jugend sind der Ausgangspunkt, aber dann wählt man einen Schauspieler, und man muss auch seine Empfindungen beschwören. Der Film steht immer in der Spannung zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen.
Ihre Filme sind weit entfernt von jeder engagierten Kunst. Kennen Sie denn Filmemacher, die Kunst noch als Waffe einsetzen?
Dazu müsste ich beantworten können, was Avantgardekunst überhaupt ist. Indem ich vor allem an radikale Akte glaube, bin und bleibe ich Debordianer. Aber nachdem Kasimir Malewitsch 1919 sein „Weißes Quadrat“ auf weißem Grund gemalt hatte, war erst einmal alles gesagt. Das lässt sich nicht wiederholen. Ich erwähne das auch, weil so vieles im System der bildenden Künste faul ist, zerstört durch Geld. Der Grund, warum ich gegenständliche Filme drehe, liegt darin, dass ich ans Kino als die letzte populäre Kunst glaube.
Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.
Gregor Dotzauer
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