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Sorge dich nicht, spiele. Bühnen- und Filmstar Maria Enders (Juliette Binoche).
©  NFP Filmverleih

Im Kino: "Die Wolken von Sils Maria": Draußen, im richtigen Leben

Olivier Assayas hat mit „Die Wolken von Sils Maria“ einen wunderbar schillernden Film gedreht, aus dem man gar nicht erwachen will, in die Wirklichkeit am allerwenigsten. Das liegt auch an Juliette Binoche.

In welcher Welt leben wir eigentlich? Große Frage. Viele kleine Antworten. Olivier Assayas, der spätgeborene Nachläufer der Nouvelle Vague, hat keine Angst vor großen Fragen. Und seine Freude an Antworten, dieser oder jener oder jener. Oder allen zusammen. Da gibt es zum Beispiel die Welt, von der Valentine, das ist die Assistentin des Filmstars Maria Enders, sagt, sie sei the real world. Wenn also in dieser Welt ein Theaterautor namens Wilhelm Melchior mit Anfang siebzig stirbt, dann ist auch diese Nachricht wie überhaupt jede Nachricht nie ohne das anonyme digitale Raunen zu haben. Da schreibt jemand: „Ich dachte, der ist schon lange tot, der hat doch seit 20 Jahren nix Besonderes mehr geschrieben.“ Und jemand: „Schriftsteller werden überschätzt, überall sterben Menschen, nur spricht keiner darüber.“ Und noch jemand: „Kenne den Typen zwar nicht, mein Beileid aber gilt der ganzen Familie.“

Und da gibt es die Welt, in der Maria Enders sich überwiegend aufhält. In einem frühen Stück dieses Wilhelm Melchior – und im Film nach diesem Stück – hat sie mitgespielt, es war der Anfang ihrer Karriere, Maria hielt Kontakt, sie kennt Wilhelms Frau Rosa, und von ihr erfährt sie, dass Wilhelm auf seiner Wanderung in der Nähe seines Hauses im Oberengadin keineswegs an einem Herzinfarkt gestorben ist. Sondern er hat sich das Leben genommen, „aber das bleibt zwischen dir und mir“. Und tatsächlich, auch wenn so ein Suizid gossip-recherchetechnisch viel interessanter ist als ein lumpiger Herzinfarkt: Es bleibt zwischen ihr und ihr.

Maria muss irgendwie in der digitalsten aller möglichen Gegenwarten klarkommen

Beide Welten, die öffentlich flachgetretene und die intime, existieren nebeneinander, und sie haben sich herzlich wenig zu sagen. Auch Maria muss sich in beiden aufhalten, wenn sie in der digitalsten aller möglichen Gegenwarten klarkommen will, und Valentine, nennen wir sie Val, hilft ihr dabei. Val telefoniert mit Marias Scheidungsanwalt und koordiniert ihre Interviewtermine, hantiert stereo mit Smartphone und Blackberry, schirmt Maria ab und schiebt sie in Begegnungen hinein – und beim Kontrollgang durchs neue Hotelzimmer wird, weil Val das so will, sofort der Flatscreen mit dem Willkommensgelaber schwarzgeklickt. Ja, Val baut Maria eine Brücke zur realen Welt. Manchmal stehen sie beide mitten auf der Brücke. Und gucken abwechslungshalber in Marias Welt rüber.

Val ist bisschen über 20, kaum älter als Maria damals war, als sie in Melchiors „Malojaschlange“ die Sigrid spielte. Heute ist Maria deutlich über 40, so alt wie ihr Gegenpart Helena damals. Und weil Olivier Assayas' schön vertracktes Drehbuch es so will, soll nun Maria in einer Neuinszenierung der „Malojaschlange“ durch einen Nachwuchsregisseur die Unternehmerin Helena spielen, die sich rettungslos in ihre coole Assistentin Sigrid verliebt, bis die die Ältere in den Selbstmord treibt. Damals hat Maria nicht viel über ihre Sigrid-Rolle nachgedacht, nun aber macht ihr der eher widerwillig vollzogene Wechsel zu schaffen. Über Sigrid weiß sie inzwischen alles. Über sich selbst in ihrem aktuellen Alter – bei genauerem Hinfühlen – am allerwenigsten, aber wer weiß das schon.

Olivier Assayas blickt mit zärtlichem Sarkasmus auf seine Figuren

Sorge dich nicht, spiele. Bühnen- und Filmstar Maria Enders (Juliette Binoche).
Sorge dich nicht, spiele. Bühnen- und Filmstar Maria Enders (Juliette Binoche).
©  NFP Filmverleih

Und was hat es mit der Malojaschlange auf sich, in deren Dunstkreis Maria, mit Val als Stichwortgeberin, in Melchiors Haus hoch über Sils Maria den Text lernt für die Premiere demnächst in London? Man muss sie sich als einen weißwolligen Wolkenstrick vorstellen, der über den Silser und den Silvaplaner See Richtung St. Moritz treibt, eine Schlechtwetterbotin meist frühmorgens im Herbst. Die Schlange dunkelt das Tal ein, sie legt das Alter über die Jugend, die Gegenwart über das Vergangene, und manchmal verschlingt sie auch eine Filmfigur, löst sie mir nichts dir nichts in ihren eigenen Nebel auf. Aber wer wäre schon unersetzlich in dieser oder auch jener Welt, von den Berühmtheiten mal abgesehen?

Die größte unter ihnen ist allerdings nicht Maria, sondern Jo-Ann. Das wilde Hollywood-Girlie soll in der Neuinszenierung die Sigrid spielen. Als Mutantin in einem Sci-Fi-Movie zur Super-Celebrity aufgestiegen, will sie in London möglichst unauffällig die Affäre mit ihrem verheirateten Lover fortsetzen, dem auch gerade extrem berühmt werdenden Jungautor Chris. Schon möglich, dass die Sache aber auffliegt angesichts all der Paparazzi und Blogger und Twitterer, und sehr wahrscheinlich, dass das Stück, das Maria nun in neuer Rolle drauf hat, dann zur totalen Nebensache wird; der ganze Rollenwechselkram, das Hadern mit dem Älterwerden, der Film, den Maria im Kopf mit sich rumträgt und auch ihr irgendwie noch junger Regisseur.

Kompliziert? Nicht wirklich. So einfach und genau, wie Olivier Assayas zuletzt in „Après mai“ (Die wilde Zeit, 2012) die Alt-Einundsiebziger in ihrer Polit-Hippie-Jugend wiedererfunden hat, nur dass es jetzt ums Heute geht. Mit zärtlichem Sarkasmus, ja, den gibt es, blickt er auf alle seine Figuren, in ihre Verschränkungen und Neugier aufeinander, in ihre Einsamkeiten und Kämpfe, auf ihre zu nichts führende Geschicklichkeit und ihr gelassen voranschreitendes Ungeschick. Nicht dass in dieser perfekt inszenierten Gegenwart – und da ist Assayas ganz nah bei seinem Urvater Eric Rohmer – jemand glücklich würde oder ernstlich unglücklich. Nur klüger.

Nun zu den Akteuren, wie in der guten alten Theaterkritik, passend zu dieser Schauspielerfeier rund um „Malojaschlange, die zweite“. Juliette Binoche als Maria: immer grandios wahr, ob geschminkt oder ungeschminkt, ob mit schön dreckigem Lachen oder in bestürzend beiläufiger Augenblicksverlorenheit. Kristen Stewart, eben noch der Vampirfilm-„Biss“-Serienstar: eine coole, clevere Val, die weiß, wie man Reißleinen zieht und dann, zu lesen in winzigen Blickgewittern, plötzlich Schmerz spürt und aushält. Chloe Grace Moretz: Vorsicht vor Jung-Sigrids Komplimenten, damit erledigt sie bald ganz andere Kaliber als Maria! Zeitweise dürfen sich auch Lars Eidinger als Jungregisseur und Hanns Zischler als Marias eitler Kollege wunderbar wichtig machen. Und dann ist da Angela Winkler: Sie hat ein, zwei Auftritte als Witwe Rosa Melchior, eine warme Farbe aus einer anderen Zeit.

Bleibt Wilhelm Melchior. Im Film unsichtbar, hat er sich als historische Person, geboren 1935, gestorben 2010, ins Presseheft geschlichen, gewisslich mit dem Segen von Olivier Assayas. Darin bewohnt er 13 köstlich feinziselierte biografische Würdigungszeilen: schön frech, diese Irreführung einer ins Faktum verwandelten Fiktion. Oder ein Traum wie die so kunstvoll schillernde Wahrhaftigkeit dieses Films, aus deren Wolkengespinsten man nicht erwachen will, in die Wirklichkeit am allerwenigsten.

Ab Donnerstag im Capitol, Cinemaxx, International, Yorck; OmU: Cinema Paris, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Rollberg

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