Erinnerung an die wilden Ost-Wendejahre: Eine Taxifahrt für eine Schachtel Kippen
Vergangenheit als Puzzle: Im Stück „30.NACH.89“ am Deutschen Theater präsentieren Jugendliche aus Polen, Russland und Deutschland Geschichten der Wendejahre.
Das bräuchte es im Theater öfter: eine schnelle Eingreiftruppe, die mit dem Tageslichtprojektor bewaffnet, die Szene entert und Geschichtsnachhilfe in allgemein verständlichen Lektionen erteilt.
Gerade junge Zuschauer könnten bestimmt davon profitieren. Schließlich, Stichwort Bildungsmisere, weiß man heutzutage nie, was man an Wissen voraussetzen darf. Zum Beispiel über die Wendejahre in Russland, Polen und Deutschland.
Sicher, die Schlagworte Perestroika und Glasnost werden den meisten noch bekannt vorkommen. Aber ob wirklich alle vom Augustputsch 1991 gehört haben, als Gorbatschow von Reaktionären und Militärs gestürzt werden sollte, während im Fernsehen unentwegt „Schwanensee“ lief?
Oder ob sie präsent haben, dass Boris Jelzin die Auflösung der Sowjetunion in einer Staatsdatscha bei der Wildschweinjagd mit den Präsidenten von Weißrussland und der Ukraine beschloss?
Trotz der Nähe zum Nachbarland Polen darf man ja bezweifeln, dass die komplette Geschichte der Gewerkschaft Solidarnosc jedem geläufig ist. Oder der Umstand, dass ihr ziviles Komitee bei den semi-freien Wahlen vom Juli 1989 auf 99 Prozent der Stimmen kam.
Im Stück „30.NACH.89“ des jungen DT, das jetzt in der Box des Hauses Premiere feierte, wird einem das alles von vier jungen Menschen nähergebracht, die Folien auflegen, Bilder überschreiben und Fakten referieren. Über eine Zeit, die sie selbst nicht erlebt haben.
Genau das ist der Reiz – die Umbrüche von 1989 aus der Perspektive derjenigen gespiegelt zu bekommen, die sich ihr Geschichtspuzzle vor allem aus dem Unterricht sowie den Erzählungen von Eltern und Großeltern zusammensetzen.
Insgesamt 18 Jugendliche, jeweils sechs aus Deutschland, Polen und Russland, sind im Zuge dieses Projekts in der Regie von Uta Plate durch die Länder gereist, haben Gespräche mit Verwandten und Zeitzeugen geführt (darunter Politikern wie Wolfgang Thierse oder auf polnischer Seite der Solidarnosc-Veteranin Grazyna Staniszeska) und sich die berechtigte Frage gestellt: Was hat das alles heute mit mir zu tun?
Der Vater träumte von Geld
Auch Befremden darf dabei sein. Etwa, wenn der junge Prokhor Gusev die Schilderungen seines Vaters aus den wilden 90ern wiedergibt. Dass man sich damals für eine Schachtel Zigaretten vom Taxifahrer durch die ganze Stadt kutschieren lassen konnte, weil es nirgendwo Kippen zu kaufen gab. Dass man lügen und manipulieren musste und sein Leben riskierte, wenn man sich unversehens im falschen Viertel wiederfand. Eine Wild-Ost-Ära.
„Ich habe meinen Vater gefragt, was damals sein Traum war“, berichtet Gusev. Die Antwort lautete: Geld. Ihn hat das enttäuscht: „Ich will nicht, dass Geld mein Leben bestimmt.“
Uta Plate, vormals Leiterin des Jugendclubs der Schaubühne, hat die Reiseerlebnisse, Recherche-Ergebnisse und Workshop-Erfahrungen in eine stringente Form gebracht.
„30.NACH.89“ ist Mix aus Lecture, Choreografie und Puppenspiel mit Kleidern (aus denen zum Beispiel die leeren Hüllen der Eltern zusammengefaltet werden), der immer wieder zu starken Verdichtungen und bedenkenswerten Anstößen findet – selbst dort, wo es um die legendäre Schabowski-Pressekonferenz und den Mauerfall geht, Ereignis also, für die es hierzulande tatsächlich keine Nachhilfe brauchen sollte.
Aber dort, wo die anderen Gruppen ihre Erzählungen mit dem passenden Wende-Song verknüpfen – in Russland etwa „I want changes“ von Victor Tsoy und seiner Band Kino –, können sich die jungen Deutschen auf kein Lied einigen.
Und zappen hilflos durch die Kitsch-Hymnen der Scorpions, von Karussell, Karat, Westernhagen oder, unvermeidlich, David Hasselhoff. Ein schönes Bild dafür, dass es bis heute kein gemeinsames Ost-West-Narrativ gibt.
[Wieder am 21.10., 11 und 19 Uhr]
Projekte, die Jugendliche aus verschiedenen Nationen zusammenführen, gibt’s ja viele. Aber „30.NACH.89“ wirkt zu keiner Sekunde so, als hätten hier überschüssige EU-Fördermittel verbraten werden müssen, sondern stiftet spannende Begegnungen. Vor allem, wenn es ums heutige Russland geht, wo das Stück bald im sibirischen Krasnojarsk gastiert.
Demonstrationen für faire Wahlen und gleiche Rechte, das hat sich im August dieses Jahres gezeigt, sind dort schließlich noch heute mit hohen Risiken verbunden.
Entsprechend plaudern die russischen Eltern, die im Videointerview zu Wort kommen, nicht nur aus dem Nähkästchen. Sie stehen vor der Frage, ob sie ihre Kinder zu einem politischen Engagement ermutigen sollen, das ins Gefängnis führen kann.