Comicverfilmung "Captain Marvel": Eine Superheldin crasht die Neunziger Jahre
Das Riot Girl: Mit „Captain Marvel“ kriegt eine Superheldin der Avengers-Reihe ihren ersten eigenen Film.
Sei dein bestes Selbst. So redet man vielleicht mit einem kleinen Mädchen, aber nicht mit einer der besten Kampfpilotinnen im intergalaktischen Sternenkrieg. Kree-Soldatin Vers hört den Spruch seit ihrer Kindheit: Sie sei zu emotional, zu impulsiv, nicht fokussiert genug. Bei einem Einsatz auf dem Giftplaneten Torfa gerät Vers’ Einheit unter der Führung ihres Ausbilders Yon-Rogg (Jude Law) dann auch prompt in einen Hinterhalt der Skrull, einem martialischen Volk von Gestaltenwandlern. Vers wird von ihrem Partner hintergangen und auf eine Raumstation verschleppt.
Skrull-Befehlshaber Talos (Ben Mendelsohn) muss Informationen über eine Wunderwaffe aus der Erinnerung der Gefangenen extrahieren, mit der er seine Leute in die letzte Schlacht führen will. „Captain Marvel“, der 21. Film im „Marvel Cinematic Universe“ (MCU) und der erste mit einer Superheldin, spielt 1995, noch vor der Gründung der Weltenretter-Combo Avengers. In dieses Jahr katapultiert es Vers (Brie Larson) auf ihrer Flucht. Sie crasht, verfolgt von ihren Widersachern, mitten in eine Filiale der Videothekenkette Blockbuster – und in die Arme des S.H.I.E.L.D.-Agenten Nick Fury (Samuel L. Jackson), hier noch ohne Augenklappe.
Marvel hat das Solo für seine Superheldin verschlafen
Viel Stoff für einen Prolog. Die Hektik in den ersten Minuten von „Captain Marvel“ verdeutlicht auch das akute Problem von Produzent Kevin Feige und seinem Franchise. Das Studio hat es lange verschlafen, im Marvel-Ensemble eine Solistin für einen eigenen Film zu finden. Bei Black Widow verpasste man den richtigen Zeitpunkt, Scarlet Witch wurde dann unmotiviert ins „Avengers“-Getümmel geworfen. Der Konkurrenz von DC, deren Comicfilm-Universum nicht so richtig in Gang kommt, ist mit „Wonder Woman“ vor zwei Jahren zumindest das gelungen. Marvel erreicht gerade das Ende des ersten „Avengers“-Zyklus, die Fortsetzung des dritten Films mit dem Untertitel „Endgame“ folgt schon Ende April.
Nach Disneys Diversifizierungskampagne für die „Star Wars“-Saga mit Daisy Ridley, John Boyega und Kelly Marie Tran (die Fanboys zur Weißglut brachte), steht Feige unter Zugzwang. Auf der Zielgraden wirft er nun Captain Marvel in die Schlacht. Der Film erzählt die verschlungene Vorgeschichte und Apotheose von Brie Larsons Supersoldatin Carol Danvers und ihrem außerirdischen Alter Ego Vers. Auf der Erde soll sie die Wissenschaftlerin Lawson (Annette Bening) finden, die im Auftrag der US-Regierung an einem Hyperantrieb für die Raumfahrt arbeitet.
Zur Erinnerung: Auf dem Höhepunkt von „Infinity War“ löschte Thanos die halbe Bevölkerung des Universums aus – und mit ihnen den Kern der Avengers. Deren Boss Nick Fury konnte, bevor er selbst zu Staub zerfällt, gerade noch einen Notruf an Captain Marvel abschicken. Das Ende des Superheldinnendebüts von Regie-Duo Anna Boden und Ryan Fleck, die zu der Spezies von Indie-Regisseuren gehören, die den rettenden Absprung ins Serienfernsehen geschafft haben, steht damit von Beginn an fest.
Zeitreise in die neunziger Jahre
„Captain Marvel“, die in den Comics seit den späten Sechzigern die abstrusesten Metamorphosen durchläuft, ist eine origin story. Nebenbei müssen Boden und Fleck die losen Enden zusammenbinden, um die Rettung der Avengers in „Endgame“ vorzubereiten. Ein kleines Gedankenspiel für die Nerds: Auf einer parallelen Zeitachse in den Comics ist Captain Marvel zeitweilig identisch mit Janet van Dyne, mit der wiederum Scott Lang am Ende von „Ant-Man and the Wasp“ im subatomaren Quantenraum festsitzt. Derzeit kursieren in den Fanforen die wildesten Spekulationen über den Abschluss der Trilogie. Zunächst aber kriegt Carol Danvers ihren Auftritt.
Ihre Einführung betreibt „Captain Marvel“ mit einen konsequenten Programm. Der Witz des Films lebt, ähnlich wie in „Wonder Woman“, überwiegend vom Spiel mit Zeitbezügen. Die Neunziger sind eben auch die Ära von Dial-up-Internet und Grunge. Danvers tauscht nach ihrer Ankunft auf der Erde als erstes ihr Weltraum-Outfit gegen zerrissene Jeans und Flanellhemd ein, der Upload einer Audiodatei sorgt für genervtes Augenrollen.
Der Soundtrack bedient das ganze Spektrum von No Doubts Girlpower-Pop über Salt'N'Pepa („Whatta Man“) bis zum Riot-Grrrl-Punk von Hole. Danvers Geschmack ist weniger feministisch, sie trägt ein T-Shirt von Nine Inch Nails. Dass Disney am Anfang gleich eine Videothek plattmacht, könnte man auch als Kampfansage an Netflix verstehen: Was ihr könnt, schaffen wir schon lange.
Über die letzte Inkarnation von Captain Marvel heißt es in den Comics von Kelly Sue DeConnick (2012), dass Carol Danvers die stärkste Superheldin im Avengers-Universum sei. An dieses Narrativ knüpft auch Feige mit seinem MCU an, Captain Marvel soll mit ihrem Solofilm und der Fortsetzung „Endgame“ als neues Gesicht der Avengers etabliert werden. Brie Larson hat einen Vertrag für sechs Filme unterschrieben und in Interviews gleich mal klargestellt, dass sie auch eine inhaltliche Neuausrichtung anstrebt. Auf ihrer Tour über Comicmessen sei sie von auffallend vielen weißen Jungs interviewt worden, erinnert sie sich. Das werde sich nun ändern. Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten.
Marvel-Fans haben ein Problem mit Frauen
Marvel geht mit „Captain Marvel“ und seiner forschen Hauptdarstellerin durchaus ein Risiko ein. Die traditionellen Jungswelten zwischen Comics und „Star Wars“-Messen sind immer noch äußerst modernisierungsresistent, das bekamen schon Kelly Marie Tran, eine der Darstellerinnen in „Die letzten Jedi“, und Leslie Jones als Geisterjägerin in Paul Feigs Remake zu spüren. Sie wurden mit rassistischen Tweets überzogen, zogen sich kurzzeitig ganz aus den sozialen Medien zurück. Dass russische Trolle hinter den persönlichen Angriffen steckten, hat sich inzwischen nur als Halbwahrheit erwiesen. Es waren viele Fans darunter.
Auch die Kampagne gegen Brie Larson, die nach ihrem Oscar für die Hauptrolle in „Raum“ den Sprung vom Indiefilm zum Blockbuster vollzogen hat, läuft bereits. Zu kühl, zu roboterhaft, nicht sympathisch genug sei ihre Carol Danvers, so die ersten Reaktionen im Netz. Boden, Fleck und ihr fünfköpfiges Autorenteam haben dieses Schwarmverhalten schon antizipiert. „Lächel’ doch mal“, quatscht ein Typ auf der Straße Danvers an, während sie den Stadtplan von Los Angeles studiert. Ihre Antwort: Sie klaut sein Motorrad.
Es ist nicht die einzige Referenz an das Actionkino der neunziger Jahre, vor allem an Linda Hamiltons ikonische Androidenkillerin aus „Terminator 2“. Damals gab es niemanden, der Sarah Connor aufforderte zu lächeln, Schwarzeneggers wortkarges „Hasta la vista“ war ohnehin ein Ausweis von Coolness. Das zeigt nur, in welchem kulturellen Klima „Captain Marvel“ gerade erscheint. Comicfans empfinden Brie Larson als Bedrohung, dabei hat das MCU die Frischzellenkur dringend nötig.
Dass Larson einen Blockbuster allein stemmen kann, hat sie schon mit „King Kong: Skull Island“ gezeigt. Doch abgesehen davon, dass sie in „Endgame“ demnächst im Team auftritt: Captain Marvel muss niemandem etwas beweisen. Findet die übrigens auch – und schießt ihren einstigen Mentor am Ende mit ihren neuen Superkräften buchstäblich auf den Mond.
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