Ingeborg-Bachmann-Preis: Eine Generation, ohne Hang zur Selbstdarstellung?
Der Ingeborg-Bachmann-Preis findet dieses Jahr digital statt. In den Vorstellungsvideos zeigen sich die Kandidaten vor der Kamera eher scheu.
Helga Schubert tritt in ihrem Porträtvideo aus dem Wohnzimmer und sagt, dass sie gleich am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilnehmen werde. Am Mittwochabend wird das 44. Bachmann-Lesen eröffnet. Es findet dezentral und digital statt, allerdings wie gewohnt mit der Klagenfurter Rede zur Literatur, diesmal von der Berliner Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo. Schubert fügt an, da steht sie dann in ihrem Garten, dass sie mit achtzig Jahren die „allerälteste“ Teilnehmerin sei und sie schon 1980 eine Einladung gehabt habe.
Sie stellte damals einen Ausreiseantrag, der nicht gewährt wurde. Vor ein paar Jahren erfuhr sie in ihren Stasi-Akten, warum: „Es gibt keine deutsche Literatur.“ Nur: DDR-Literatur, österreichische, Schweizer Literatur. Derweil wandert sie durch ihren weitläufigen Garten, Vögel zwitschern. Sie habe aus diesem Grund nicht teilnehmen können, „wo dann auch noch der berüchtigte Antikommunist Reich-Ranicki Juryvorsitzender war“. Schließlich sagt sie, sich für ihr Pathos entschuldigend, ihre Teilnahme dieses Jahr sei „ein später Sieg über die Diktatur“. Es ist ein schlichtes Porträt, das die 1940 in Berlin geborene Schriftstellerin von sich hat aufnehmen lassen. Doch es ist sympathisch, erzählt fast ein ganzes Schriftstellerinnenleben in schlanken zwei Minuten. Was Schubert nicht sagt: Von 1987 bis 1990 war sie Mitglied der Bachmannpreis-Jury.
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Die Videos gehören zum Ritual dieses Wettbewerbs, werden vor dem jeweiligen Auftritt gezeigt und vermitteln einen Eindruck von dem, was an Literatur folgt. Eine Übung, die zu den unbeliebtesten im Literaturbetrieb gehört. Inzwischen produzieren die Autorinnen und Autoren in der Regel selbst. Und trotzdem: Sie scheinen mehr Angst vor der Aufnahme zu haben als vor ihrer Lesung oder dem Urteil der Jury. Ihr Grundzug ist der der Vermeidung, mehr noch: der einer gezielten Verweigerung.
Worte nur auf dem Papier
Jasmin Ramadans Video ist eine von beschwingten Klavierklängen begleitete bunte Computeranimation ohne Worte, darin eine Figur, mal mit Zigarette, mal an der Tastatur. Carolina Schutti sagt auch kein Wort. Man sieht sie nur in einer Wald- und Forstlandschaft auf dem Macbook tippen, in Notizbücher oder auf Zettel schreiben. Einmal lässt Schutti sich über die Schulter schauen: „Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist?“.
Levin Westermann sieht man ebenfalls nicht. In seinem Video läuft jemand an einem Hang entlang, irgendwo im Süden. Das Meer ist blau, der Himmel auch, nur die Vögel, Insekten und die Schritte der laufenden, aber nicht im Bild befindlichen Person, sind zu hören. Laura Freudenthaler zeigt in ihrem Video ein offenes Fenster: Blick auf einen stillen Hinterhof, links ein Apfel, viel Grau. Was sagt das über die Literatur von Freudenthaler? Dito Matthias Senkel: kein Wort von ihm. Man sieht Senkel immerhin, wie er ein Porträt von sich zeichnet.
Eine Generation, ohne Hang zur Selbstdarstellung, könnte man denken, mit Worten nur auf dem Papier. Nur gut, dass sich die Ex-„Vice“-Mitarbeiterin Hanna Herbst mit einem selbst komponierten Song vorstellt, einer Art Rap. Darin droppt Herbst Klischees des Schriftstellerinnen-Daseins; auch ein Reich-Ranicki-Sample ist drin. Ebenfalls nicht schlecht: Lydia Haiders Fotoalbum, das die österreichische Autorin beim Umblättern singend begleitet, vor allem mit der Zeile „Miss-, Miss- eine Missgeburt Gottes bist du“. Man muss das nicht originell finden, besser als die Schweiger und Verweigerinnen ist es allemal.
Nur der österreichische Autor Egon Christian Leitner kommt an die Souveränität von Helga Schubert heran. Hier scheint der Irrwitz durch: von der Grazer Tristesse, die er zeigt, über seinen monumentalen „Sozialstaatsroman“, 1200 Seiten mit 1200 Figuren, bis hin zu seinen Klee- und Aristoteles-Verweisen. Leitner und Schubert dürften allein ihrer Porträts wegen zu den Favoriten des Wettbewerbs 2020 gehören. Ansonsten gilt: „Ich weiß nicht, was ich mit Sicherheit sagen kann“, so die Braunschweigerin Lisa Krusche, „ich glaube nichts. Das eine, was ich mit Sicherheit sagen kann: Ich schreibe, weil ich es nicht anders aushalte.“ Damit dürfte Krusche ihren stummen Kollegen und Kolleginnen aus dem Herzen gesprochen haben.
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