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Für Europa: Anti-Brexit-Proteste am Mittwoch vor dem Parlament in London.
© dpa/Stefan Rousseau

Timothy Garton Ash über den Brexit: "Ein zweites Referendum wird attraktiv"

Der Historiker Timothy Garton Ash spricht über den Brexit, die Störrigkeit der Engländer und ein Europa, das zwischen den Großmächten zerrieben wird.

Herr Garton Ash, Sie haben in einem Vortrag beim Zentrum Liberale Moderne in Berlin die These vertreten, in Großbritannien könne es ein zweites Brexit-Referendum geben. Warum sind Sie so sicher?

Sicher kann man nie sein, wenn es um den Brexit geht. Ich bin aber beinahe tagtäglich in Westminster und rede mit den Parlamentsabgeordneten. In Westminister geht man davon aus, dass Theresa May die Abstimmung über den mit den EU27 beschlossenen Brexit-Vertrag am 11. Dezember verlieren wird. Dass daraus ein zweites Referendum folgt, ist ein absolut plausibles Szenario.

Was würde denn aus Ihrer Sicht passieren, wenn May die Abstimmung verliert?

Theresa May würde wahrscheinlich zuerst zurück nach Brüssel gehen, zum Europäischen Rat am 13. Dezember, und um mehr Konzessionen bitten. Dann gäbe es wahrscheinlich eine zweite Abstimmung, die sie abermals verlieren dürfte. Dann könnte in der Führungsspitze der Konservativen ein Machtkampf ausbrechen, Neuwahlen sind möglich, ein harter Brexit ist möglich, aber das ist aus meiner Sicht alles eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sind zwei Varianten: Die eine ist „Norwegen Plus“ – wir akzeptieren den Deal und streben unter anderem die Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum und eine Zollunion mit der EU an. Das würde allerdings bedeuten, dass wir die Bewegungsfreiheit der europäischen Bürger akzeptieren müssten und das würde Theresa May nicht mitmachen. Wenn sie von irgendetwas wirklich überzeugt ist, dann davon, dass es in Großbritannien zu viele unkontrollierte Einwanderer gibt.

Und die andere Variante ist das zweite Referendum?

Ja. Viele, mit denen ich gesprochen habe, werden zunächst als treue Tories mit Theresa May für den Brexit-Vertrag abstimmen, aber wenn das scheitert, wird ein zweites Referendum für sie attraktiv. Das ist eine unfassbare Entwicklung. Noch im Juni habe ich an einer kleinen Demonstration für ein zweites Referendum teilgenommen. Da waren wir britischen Europäer sozusagen noch unter uns. Und plötzlich ist es fast mehrheitsfähig!

Sie begrüßen ein weiteres Referendum?

Unbedingt! Mit Herz und Verstand!

Müsste das ohne May stattfinden? Sie hat ein zweites Referendum stets vehement abgelehnt …

Nicht unbedingt. Das ist das neueste und interessanteste. Theresa May reist gerade durchs Land, um den Menschen den Deal zu erklären. Warum, das fragen auch die Abgeordneten, ist sie nicht im Parlament und versucht, die Parlamentarier zu überreden? Eine Deutung ist: Sie weiß, sie wird verlieren und spielt schon mit dem Gedanken, die Frage zurück ans Volk zu geben.

Karlspreisträger: Der Historiker Timothy Garton Ash während der Festmesse zu seiner Ehrung im Aachener Kaiserdom 2017
Karlspreisträger: Der Historiker Timothy Garton Ash während der Festmesse zu seiner Ehrung im Aachener Kaiserdom 2017
© imago/Rudolf Gigler

Würden denn die Briten in einem Referendum für den Verbleib votieren?

Nichts ist sicher. Wir Engländer sind „bloody minded“, störrisch. Die Umfragen sagen aber eine knappe und zunehmende Mehrheit für den Verbleib voraus.

Allerdings käme im Fall eines zweiten Referendums noch ein harter und schmutziger Wahlkampf auf Großbritannien zu …

Ich bekam neulich eine Mail von einem alten Bekannten, der gelesen hatte, dass ich mich zu einem zweiten Referendum geäußert habe. Er schrieb: Willst du einen Bürgerkrieg? Aber sind die Engländer wirklich so verrückt, dass sie zu Gewalt greifen, weil das Parlament in einem völlig legitimen Verfahren sagt, wir geben die Frage zurück an das Volk?

Was wäre denn gewonnen, wenn es für einen Verbleib, aber knapp ausgeht?

Das wäre natürlich nicht gut. Aber selbst, wenn wir verlieren würden, fände ich das den besseren Weg. Dann würde ich sagen: Die Leute wussten wirklich, was sie tun.

Sie gehen davon aus, dass sich Europa und Großbritannien in dem Fall, dass es beim Austritt bleibt, weiter auseinander entwickeln werden. Warum?

Man unterschätzt auf dem Kontinent die langfristigen Folgen des Brexits. Sie werden sehr viel schwerwiegender als geglaubt, zumal in der Sicherheits- und Außenpolitik. Es wird eine Dynamik der Divergenz geben, nicht der Konvergenz.

Was könnte das heißen?

Die Verhandlungsposition der Briten für die konkreten Bedingungen nach dem Austritt am 29. März 2019 ist unglaublich schlecht. Wir werden keinen guten Deal bekommen. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Konsequenzen in ein paar Jahren sichtbar werden. Dann müssen sich die Brexiteers rechtfertigen. Und die werden sagen, was die störrischen Engländer immer sagen: Die Franzosen waren schuld. Für diese Situation sage ich eine weitere Verschlechterung der Beziehungen voraus.

Mit wem soll Großbritannien denn sonst wirtschaftlich und sicherheitspolitisch so vertrauensvoll zusammenarbeiten wie mit den EU-Staaten?

Eine kontinentale Partnerschaft – das ist ein Vorschlag von Wolfgang Ischinger und anderen – wäre ein positives Konzept. Aber daran müsste sorgfältig gearbeitet werden, mit ruhigem Verstand. Und so sind die Zeiten des Populismus nicht. Wenn es schlecht geht, könnte Großbritannien sogar langfristig zurückkehren zum alten Spiel der Europapolitik: Teile und herrsche. Können wir wirklich sicher sein, dass unter den europäischen Ländern nicht irgendwann einige sein werden, die sehr unzufrieden mit einer karolingisch geführten Europäischen Union sind? Ist Griechenland zufrieden, Portugal, Polen? Großbritannien könnte versucht sein, sich diese unzufriedenen Staaten zu Verbündeten zu machen.

Ist Europa überhaupt noch ein gemeinsamer Werteraum? Viktor Orban wirft Universitäten aus dem Land, die Polen verabschieden eine illiberale Justizreform, und Brüssel steht dem machtlos gegenüber …

Die europäischen Werte waren immer umstritten. Es gibt mindestens zwei verschiedene Vorstellungen von Europa innerhalb der EU. Viktor Orban sagt, wir sind das eigentliche Europa, das traditionelle, konservative, christliche, nationalbewusste, maskuline. Das ist theoretisch durchaus legitim als Diskussion – unter Europäern. Aber die EU und andere europäische Institutionen haben einen klaren Wertekanon, verteidigen ihn allerdings nicht effektiv. Es ist einfach ein Skandal, wie wenig man auf die Situation in Ungarn reagiert. Ich würde dieses Land nicht mehr als Demokratie bezeichnen.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas sagte gerade, Europa sei in Gefahr, im Großmachtkonflikt zwischen den USA, China und Russland zerrieben zu werden. Das müsste doch ein Anreiz für eine enge europäisch-britische Kooperation sein.

Das sehe ich auch so. Daraus entstehen neue Narrative für Europa, die nicht in Berlin anfangen, sondern in Beijing, Moskau, Neu-Delhi. Wir geben diesen aufsteigenden Großmächten viele Chancen für ein Divide et Impera, teile und herrsche. Sei es Russland mit seinen besonderen Beziehungen zu Balkanstaaten oder China, das mit seiner 16- plus-Eins-Politik die Loyalität von Ländern in Süd-, Mittel- und Osteuropa binden will. Das wird das neue, schlagende Argument für die EU.

Und wenn Europa es nicht schafft, zum Akteur auf der Weltbühne zu werden?

Im Englischen sagen wir: Wenn du nicht mit am Tisch sitzt, stehst du auf der Speisekarte. Dann werden wir weiter an Kraft verlieren und weder unsere Interessen noch unsere Werte verteidigen können. Wir stünden unvergleichbar viel besser da, wenn wir als Antwort auf den Mauerfall vor fast 30 Jahren eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgebaut hätten statt einer Währungsunion, die uns bis heute Probleme bereitet. Doch das Bewusstsein dafür, dass Europa eine gemeinsame strategische Kultur entwickeln muss, ist gewachsen. Es fehlt an der politischen Wirklichkeit und Wirksamkeit.

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