Überwachung in China und im Westen: Die neue Logik der Seele
Düstere Aussichten: Kai Strittmatter beobachtet, wie China eine digitale Diktatur aufbaut, Shoshana Zuboff untersucht den westlichen Überwachungskapitalismus.
Seit der Mensch über sich nachdenkt, schaut er in den schwarzen Spiegel der Kunst, um herauszufinden, wie es wohl eines Tages mit der Welt zu Ende gehen wird. Schaudernd liest er die Offenbarung des Johannes oder vertieft sich in die Gemälde von Hieronymus Bosch. Bis in die jüngste Zeit halluziniert er postapokalyptische Zustände, wie sie Cormac McCarthy in seinem Roman „Die Straße“ beschreibt, oder Arno Schmidt in seiner Erzählung „Schwarze Spiegel“, einer Passage durch die atomar verwüstete Lüneburger Heide. Doch diese Auslöschungsfantasien entwerfen nur den offensichtlichsten Teil eines Schreckens, der sich vielleicht längst im weniger Offensichtlichen abspielt.
In seinem Gedicht „Doomsday“ beschwört der von dunklen Spiegeln besessene Argentinier Jorge Luis Borges einen Untergang, der bereits stattgefunden hat, und einen Neuanfang, der noch immer möglich ist. „In jedem Augenblick kannst du Kain sein oder Siddartha", schreibt er, „die Maske oder das Gesicht. / In jedem Augenblick kann dir Helene von Troja / ihre Liebe offenbaren. / In jedem Augenblick kann der Hahn dreimal gekräht haben. / In jedem Augenblick lässt die Wasseruhr den letzten Tropfen fallen.“
Während in solchen Zeilen noch ein Funken Hoffnung glüht, macht sich die englische TV-Serie „Black Mirror“ keine Illusionen mehr. Es ist vorbei, und dennoch geht es immer weiter: So ungefähr lautet ihr Befund. Folge um Folge illustriert sie, wie der technologisch optimierte Mensch sein gewohntes Selbstverständnis abstreift und ein anderer wird. Erfinder Charlie Brooker erklärt den Titel denn auch als fassungloses Starren auf einen abgeschalteten Smartphone- Screen, in dessen nackter Finsternis sich niemand mehr als der erkennt, der er ist.
Wenn sich Utopie und Dystopie nicht mehr unterscheiden lassen
„Black Mirror“ erzählt vom Leben in einer Hypermoderne, in der sich Utopie und Dystopie nicht mehr unterscheiden lassen. Und verschwimmen nicht auch Fiktion und Wirklichkeit? Kai Strittmatter nennt das Land, dessen Schicksal er seit 30 Jahren verfolgt und das ihm als Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ insgesamt 15 Jahre eine zweite Heimat war, in seinem neuen Buch nicht grundlos den „schwarzen Spiegel“ des Westens. „Egal ob bei der Gesichtserkennung, der Verhaltensvorhersage oder aber der belohnenden und bestrafenden Bewertung von Individuen in Online- Ökosystemen“, schreibt er in „Die Neuerfindung der Diktatur“: „Die in China praktizierte Hemmungslosigkeit bei diesen Entwicklungen beschert so manchem CEO in Silicon Valley, London oder Berlin feuchte Träume.“
Strittmatter sagt nicht, ob er die prophetische Folge zum Auftakt der dritten Staffel gesehen hat, in der die totale Gamification von sozialem Verhalten eine frohgemute Hochzeitsbesucherin durch die Bewertungen der anderen Gäste zur Ausgestoßenen macht. Ein Vorgeschmack auf das, was China mit dem Sozialkreditsystem blühen könnte. Derzeit befindet es sich noch in der Erprobungsphase, wird von denen, die schon damit leben, allerdings keineswegs als Bedrohung betrachtet, sondern als Schutz vor Korruption und Verantwortungslosigkeit, ja als Versicherung gegen nachbarliche Unberechenbarkeit überhaupt – als würde sich hinter ihr nicht die Willkür des Staates verstecken.
Man darf nicht mit allzu viel abendländischem Humanismus an die Sache gehen, um das, was sich da anbahnt, zu begreifen. Denn es entzieht sich den vertrauten Begriffen. Für die lange an der Harvard University tätige US-Ökonomin Shoshana Zuboff ist „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, das sie in ihrem neuen Buch schildert, das schlechthin Beispiellose. Ein ums andere Mal muss sie sich eingestehen: „Das Beispiellose ist seinem Wesen nach nicht zu erkennen.“
In acht vorangestellten Punkten, die sie im Verlauf ihres 700-seitigen Opus Magnum entfaltet, spricht sie vom „Sturz der Volkssouveränität“ und der „Enteignung kritischer Menschenrechte, die am besten als Putsch von oben zu verstehen ist“. Kurz: „Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten.“ Zuboff sieht einen Markt für Vorhersagen entstehen, den sie als Verhaltensterminkontraktmarkt bezeichnet: Entsprechende Formen künstlicher Intelligenz kennen unsere (Kauf-)Entscheidungen, bevor wir sie kennen.
Beide Bücher ergänzen einander auf unheimliche Weise
Die Diagnose selbst ist nicht neu. Zuboff selbst hat Frank Schirrmacher für seine Kampfschrift „Ego – Das Spiel des Lebens“ mit entsprechenden Analysen munitioniert. Die erzählerische Ruhe, von der ihr materialreiches Buch lebt, machen es indes zu einer noch viel bestürzenderen Untersuchung. Mit dieser Radikalität hat noch niemand den Totalitarismus einer „Dritten Moderne“ beschrieben, die ihre Zeitgenossen einer umfassenden „Dressur“ unterwirft. Statt Bürgern zieht sie mit „instrumentärer“ Macht Marionetten heran.
Kai Strittmatters „Neuerfindung der Diktatur“ und Shoshana Zuboffs „Überwachungskapitalismus“ ergänzen einander auf unheimliche Weise. Was ihm methodisch fehlt, hat sie im Überfluss. Und wo er Chinas Überwachungsstrategien als zielgerichtete ideologische Perfidie beschreibt, sieht sie ein sich verselbstständigendes Marktdenken am Werk: „Der Überwachungskapitalismus ist keine Technologie, er ist vielmehr die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt.“ Zusammen liefern die beiden ein so rabenschwarzes Bild der Zukunft, dass die heraufziehenden Umweltverheerungen nur wie der letzte Sargnagel für den Planeten wirken.
Erstaunlicherweise treffen sie sich nicht nur im Blick auf China als technologische Avantgarde, sondern auch als Ressource eines Denkens von einem anderen Ort aus. Zuboff stellt der allgemeinen Verdunklung W. H. Audens (leider in grauenhafter deutscher Version zitierten) Sonettenzyklus „In Time of War“ gegenüber, der ihr als anthropologische Selbstvergewisserung dient. Zusammen mit seinem Freund, dem Schriftsteller Christopher Isherwood, war der englische Dichter 1938, auf dem Höhepunkt des japanisch-chinesischen Krieges, durch das Reich der Mitte gereist. Dabei steuerte er zu dem nie ins Deutsche übersetzten Reisebuch „Journey to a War“ 27 Gedichte und einen Vers-„Commentary“ bei, der auf der unauslöschlichen Gestaltungsfreiheit des Menschen beharrt. „Nothing is given: we must find our law“, heißt es da. Frei übersetzt: Uns ist nichts auferlegt, wir brauchen unser eigenes Gesetz.
Ein System von Jasagern wird anfällig für Fehler
Dagegen wirkt Strittmatter wenig kampfbereit. Wenn man nicht wüsste, dass er die chinesischen Verhältnisse von Grund auf kennt und seine Bitterkeit auch aus enttäuschter Liebe rührt, könnte man ihm vorwerfen, dass er trotz objektiver Verdüsterung der Lage kaum noch Zwischentöne kennt. Kapitel um Kapitel häuft er Belege für den Expansionsdrang des chinesischen Staatskapitalismus auf, der westliche Politiker und Forscher korrumpiert. Er plädiert unnachgiebig für die Auflösung der Konfuzius-Institute an den deutschen Universitäten. Und er erklärt, wie das Gift der Kulturrevolution noch immer in den Herzen der Chinesen sitzt und „die Kunst der Verstellung dem Untertanen in der Autokratie zur zweiten Natur wird“.
Manchmal scheint es, als wollte er seine Kritik auf die Spitze treiben, um jenen Punkt zu simulieren, an dem System von alleine kollabiert. Denn mit der Annahme, dass kein Regime jemals die vollständige Herrschaft über seine Untertanen erringen wird, hat er ebenso recht wie mit der Andeutung, dass totale Kontrolle die Entfaltung einer Kreativität behindert, ohne die auch rein ökonomische Innovation nicht auskommt. „Wenn einer“, schreibt er mit Blick auf Xi Jinping, „auch loyale Opposition nicht mehr duldet und am Ende nur mehr von Hofschranzen und Jasagern umgeben ist, dann macht er das System anfällig für Fehler, die ohne Korrekturmechanismen schlimme Konsequenzen haben können.“ In diesem Sinn findet in China gerade eines der größten Experimente in der Geschichte der Menschheit statt.
Der Ton bei alledem ist leicht, manchmal geradezu flapsig. Es ist das Buch eines Journalisten, der gern seinen rhetorischen Mitteln vertraut und daraus seine Kraft bezieht. Es ist, so Strittmatter, jedenfalls nicht nur fatal, dass Europa Chinas Durchsetzungskraft unterschätzt und in der Bewertung der Expansion politisch gespalten ist wie nie zuvor. Europa, so lässt er zumindest anklingen, unterschätzt auch bei Weitem, wie eine unter autoritären Vorzeichen prosperierende Wirtschaft das aufklärerische Licht des westlichen Liberalismus eintrübt. Zusammen mit Shoshana Zuboffs Diagnosen ist das eine Mahnung, der man sich nicht entziehen sollte.
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper, München 2018. 288 S. 22 €.
Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid. Campus, Frankfurt a.M. 2018. 727 S., 29,95 €.