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Fürs falsche Leben: Am Donnerstag wird Anna Sorokin voraussichtlich zu mehreren Jahren Haft verurteilt.
© R. Drew/dpa

Hochstaplerin Anna Sorokin: Ein Kind dieser Zeit

Anna Sorokin versprach der New Yorker Kulturszene den großen Kick – und alle wollten ihr glauben. Was uns mit ihr verbindet.

New York ist noch immer fasziniert von Anna Sorokin. Dutzende in Manhattans Gesellschaft waren hereingefallen auf die junge Deutschrussin, die erklärt hatte, Millionärin zu sein und in Kulturprojekte investieren zu wollen. Die Stadt sei von ihrer Unverfrorenheit wie „besessen“, hieß es im „Time Magazine“, und Netflix plant eine Serie.

Sorokins Kapital war es, Kapital vorspiegeln zu können, wovon sich Künstler und Galeristen berauschen ließen, Fotografen, Sterneköche, Hoteliers, Bankiers, Investoren, Mäzene, Freundinnen, Freunde. Einige waren inzwischen Zeugen im Prozess, am 9. Mai soll das Strafmaß verkündet werden – Amerikas Presse spekuliert auf Haft von fünf bis 15 Jahren.

Am 25. April 2019 befand ein Geschworenengericht in New York Anna Sorokin für schuldig, unter dem Alias „Anna Delvey“ Diebstähle und Betrugsdelikte begangen zu haben. Über 200 000 Dollar habe sie erschlichen und zudem versucht, an Millionenkredite zu gelangen.

Was die Öffentlichkeit über sie erfahren hat, geht auf den Gerichtsprozess zurück – und auf Medienberichte, darunter ein Essay der Fotografin Rachel Williams.

Von Sorokin auf eine Luxusreise samt Butler und Pool nach Marrakesch eingeladen, blieb Williams im Mai 2017 auf rund 60 000 Dollar, etwa 53 000 Euro, sitzen. Sie war mit ihrer Kreditkarte eingesprungen, als Sorokins Karte nicht funktionierte.

Recht bekam Williams vor Gericht nicht; es gab ja keinen Schuldschein. So und ähnlich überlistete Anna Sorokin Dutzende mehr, während sie sparsam ihr Image auf Instagram pflegte. Sie postete Blitzlichter ihrer Reisen, etwa ein Foto aus der Berliner König Galerie vom Juli 2015 oder eins aus dem Japan-Pavillon der Biennale in Venedig. Ihre 65 000 Follower stammen aus aller Welt.

Meisterin der Selbstoptimierung

Ende Oktober 2017 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen eine junge Frau, die nicht viel anderes gemacht hatte als Millionen ihrer Zeitgeistgeschwister: Sie hatte sich selbst neu erfunden, inspiriert von Methoden der Selbstoptimierung.

Anna Sorokin, am 23. Januar 1991 in Russland geboren, kam mit ihren Eltern 2007 aus einem Moskauer Vorort nach Eschweiler bei Aachen. Mobilität, Globalisierung! Der Vater, ehemals Lastwagenfahrer, hat geschäftliches Geschick, er betreibt heute in Düren eine Firma für Fußbodenheizungen. Anna sei gut in der Schule gewesen, sollen frühere russische Mitschülerinnen der „Daily Mail“ erzählt haben, war interessiert an Sprachen, Mode, Tanz und eher still.

Nach dem Abitur in Deutschland bekam sie einen Platz zum Kunststudium am Central Saint Martins College London, den sie ausschlug. Stattdessen war sie offenbar 2012 Praktikantin einer Berliner Fashion-Agentur, um 2013 ein Praktikum beim Pariser „Purple“-Magazin für Mode und Kunst anzuschließen. Dort soll sie sich in Anna Delvey umgetauft haben. Ihr Instagram-Account gibt als Beruf „retired intern“ an, Praktikantin im Ruhestand.

Von Russland über Europa in die USA

Das passt, denn 2014, als „Anna Delvey“ in New York landete, war das Leben als Praktikantin vorbei und sie erfand sich neu. Jetzt war sie eine begüterte Jungunternehmerin, die in coole Kunstprojekte investieren will. Über Russland und Europa war der Weg ins Traumziel der Globalisierung frei geworden, New York.

Sorokin trug lässige Designermode, teure Hoodies und Sneakers, residierte in einem hippen Hotel in Soho und lockte Investoren mit ihrer Vision eines mondänen Clubs inklusive Galerie und Restaurant.

Ende Juni erscheint ein erstes Buch zum Fall

Abermillionen erwarte sie aus dem Trust des Vaters, der je nachdem Ölmagnat war oder einen Solarkonzern besaß. Bis die Summe freigegeben werde, bräuchte sie nur einen Vorschuss. Tatsächlich ergatterte Sorokin/Delvey so ein Darlehen von etwa 100 000 Dollar, knapp 90 000 Euro, bei einer Bank, kaufte schicke Accessoires, überschüttete Hotelpersonal mit Trinkgeldern.

Erst als Banken und Hotels auf Sicherheiten drängten, flog schubweise auf, dass der lebende Roman Anna Delvey keinerlei Verlag besaß, sondern nur eine Protagonistin. Jetzt allerdings wird Anna Sorokin ihr Buch schreiben – und nicht nur sie. Ende Juni 2019 soll Rachel Williams’ „My friend Anna“ erscheinen, so könnte sich der Reinfall der Fotografin noch zum Reibach entwickeln.

Wie viel Anna steckt in uns?

In seinem Plädoyer wies Sorokins Verteidiger auf eine Zeile aus Sinatras „New York, New York“ hin: „If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Seine Mandantin habe den Mut zum Träumen gehabt. Und: „There’s a little bit of Anna in all of us“, ein Stück Anna stecke in uns allen. Was kann daran so falsch sein?, suggerierte er damit.

Ja, was, in einem Kommerzklima, in dem Teenager als „Influencer“ Millionen verdienen, wenn sie Schminktipps auf Youtube hochladen? Ökonomisch, politisch sowie kulturell erfüllte Sorokins Vision hochaktuelle Kriterien für Karrieren der hybriden Welt zwischen analog und digital: Anna Sorokin darf, erstens, als Rollenmodell des Neoliberalismus gelten, sie kann, zweitens, als Ikone aktueller Identity Politics gelesen werden und drittens als Symptom einer effektfixierten weltweiten Kunstszene.

Fantasie war ihr Trumpf

Inspirationsquelle Neoliberalismus: Jeder kann den Klassensprung schaffen, so lautet das neoliberale Narrativ. Sozialer Hintergrund ist egal, wo jemand auf Draht ist. In ihrem Handel mit Illusionen erweist sich Sorokin als hochtalentiert von solchen Lehren geleitet.

Ihr fehlte allein der letzte Funke Fortüne im Roulette. Wie Börsen über Aktienkurse melden: „Da ist Fantasie drin“, so war Fantasie Anna Sorokins Trumpf. Ein Experte der City National Bank sagte im Prozess aus, sie habe über die Sprache der Finanzwelt verfügt.

Nicht vom Tellerwäscher auf dem Ozeandampfer wird der postmoderne Faden zum Erfolg gesponnen, sondern von der Selbstinszenierung zum Celebrity-Status. Aufgewachsen im Russland der Oligarchen studierte Sorokin die westliche Welt des Glamours. Dort wollte sie eindringen, sofort, von oben, nicht über kleine Ausstellungen in namenlosen Galerien.

Erfinde dich selbst! Schreib dich selbst!

Virtuelle Riesensummen vibrieren durch die Glasfaserkabel des Globus, das große Blenden und Hoffen ist alles andere als ein Monopol der an Skrupeln armen Anna Delvey. Wie irgendein Manager und Dieselbetrüger bezog sie in ihr Kalkül die Integren ein, die ihre eigene Redlichkeit aufs Gegenüber projizieren – nur war ihr Einsatz verhältnismäßig winzig. Bitter stieß Sorokins Geschichte der „FAZ“ auf, als sie in Berichten darüber die „typische Häme gegen die gutgläubigen, oft superreichen Opfer“ witterte.

Inspirationsquelle Identitätspolitik: Erfinde dich selbst!, heißt das Mantra. Lass dich nicht durch andere definieren, dominieren, kolonisieren!

Bau dir deine Identität zusammen, jenseits von Herkunft und Zuschreibungen – schreibe dich selbst! Wenn sich Millionen auf Facebook und Twitter, in Blogs und Chats, Namen geben wie „MickeyMouse104“, warum soll aus einer Anna Sorokin nicht eine Anna Delvey werden?

Osmotisch verarbeitete Sorokin, was sie im Fashion-Kosmos mitbekam: „Fake it yourself“ hat mehr Chancen als „do it yourself“. Sorokin täuschte vor, finanziell liquide, also flüssig zu sein. Was sie nicht vortäuschte, war ihre fluide, flüssige Identität – vollendet gegenwärtig.

Architektin eines Lügengebäudes

Feministische Identitätspolitik wusste sie ebenfalls zu nutzen, wenn sie darüber klagte, dass ältere Anwälte sie als junge, weibliche Investorin nicht ernst nähmen. Der Rat ihrer Celebrity-Fitnesstrainerin Kacy Duke auf deren Website lautet: „Become the architect of your body and life.“ Als Architektin ihres Lügengebäudes setzte Sorokin den Rat der Frau, die 300 Dollar pro Stunde nimmt, um – zu wörtlich.

Sie lernte auch von Peers, wie der Rezeptionistin im Hotel, die ihr nach dem System „each one teach one“ über Hypes und Looks der Society Auskunft gab.

Sorokin sitzt derzeit im berüchtigten Gefängnis auf Rikers Island ein. Das sei gar nicht so übel, soll sie gegenüber dem Lifestylemagazin „The Cut“ erklärt haben, sie sehe ihren Aufenthalt als „soziologisches Experiment“.

Eine der jungen Mitinhaftierten habe Identitätsdiebstahl betrieben: „Ich wusste gar nicht, wie leicht das geht.“ In ein paar Jahren, wenn Sorokin diese Volkshochschule absolviert hat, wird sie wohl wirklich Millionärin, dann, wenn sie ihren Anteil an der Story nutzen und das Talkshowpublikum mit reuigen Ratschlägen rühren kann.

Selbstvermarktung: Trump machte es vor

Inspirationsquelle Kunstwelt: Nicht zuletzt wurden Habitus und Attitüde der jungen Frau von Beobachtungen in der coolen interkontinentalen Kunstszene angestoßen. Ihr Projekt nannte sie „dynamic visual-arts center“, verbal entwarf sie Bar, Galerie, Restaurant und exklusive Clubräume. Ihr iPhone trug in Riesenlettern ihr Monogramm, mit Céline-Sonnenbrille, Laptop und Luxusgepäck jettete sie umher, zwischen der Art Basel und New Yorker Clubs, Tennisplätzen, Kosmetiksalons und kultigen Ausstellungen.

Donald Trump macht es vor. Und während die Kardashians, die Carsten Maschmeyers dieser Welt Phänomene der medialen Selbstvermarktung darstellen, suchte Sorokin in ihrer Erfindung der „Anna Delvey“ ein weitaus umfassenderes Spektrum ökonomischer und kultureller Imagination zu bündeln. Sie ging aufs Ganze und ist damit ein Kind ihrer, unserer digitalen, globalen Zeit wie kaum ein anderes.

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