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Aufklärer. Andreas Nachama.
© Thilo Rückeis

„Das verschlägt einem den Atem“: Direktor der „Topographie des Terrors“ über Erinnerungskultur und Antisemitismus

Andreas Nachama war mehr als 30 Jahre Leiter der „Topographie des Terrors“. Nun scheidet der Historiker aus dem Amt. Ein Gespräch.

Der Historiker, Publizist und Rabbiner Andreas Nachama, Jahrgang 1951, leitet seit 1987 die Topographie des Terrors in Berlin und ist seit 1994 Direktor der gleichnamigen Stiftung. Nachama studierte an der FU Berlin und arbeitete zunächst bei den Berliner Festspielen. Von 1997 bis 2001 war er Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin und Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Unter anderem leitete er die Jüdischen Kulturtage (1992 – 99) und lehrte bis 2015 am Berliner Touro College. Zurzeit engagiert sich Nachama beim inter- religiösen Projekt House of One. Der Grundstein soll im April 2020 gelegt werden.

Herr Nachama, die letzte Ausstellung, die Sie als Direktor der „Topographie des Terrors“ eröffnet haben, handelt von der Verfolgung der Juden in den Niederlanden. Zu sehen ist auch ein Foto von 22 jüdischen Kindern, nur eins hat den Holocaust überlebt. Ist es eine Aufgabe am Ort der Täter, die Opfer wieder sichtbar zu machen?
Eigentlich nicht. Wir beschäftigen uns hauptsächlich mit den Tätern. Aber natürlich lassen Täter sich nicht von den Opfern trennen. Die Ausstellung ist für das Holocaust Museum in Amsterdam entstanden, das auf viele Fotos zurückgreifen konnte, die erst vor Kurzem aus Privatbesitz aufgetaucht sind.

In den über 30 Jahren, die Sie für die „Topographie“ gearbeitet haben, waren Sie oft mit solchen Dokumenten konfrontiert. Haben Sie dabei professionelle Distanz entwickelt oder waren Sie oft erschüttert?
Erschütterung ist vielleicht der falsche Begriff: Historiker gehen mit einer gewissen Distanz an Dokumente heran. Aber diese Arbeit geht nicht spurlos an einem vorüber. Wir bereiten gerade eine Ausstellung mit dem Arbeitstitel „Der kalte Blick“ vor. Es geht um erkennungsdienstliche Fotos, die im Auftrag von „Rasseforscherinnen“ entstanden. Dabei wurden Menschen fotografiert, die unmittelbar danach ins Gas geschickt wurden. Die Täter gingen auf perfide Art und Weise mit den Opfern um. Das verschlägt einem schon den Atem.

Wo kommen die Fotos her?
Aus einem österreichischen Museum. Die Forscherinnen haben bis in die siebziger Jahre gelebt, ich hätte ihnen begegnen können. Entstanden sind die Fotos im polnischen Ghetto Tarnów, in dem rund 16 000 Juden lebten. Viele wurden nach Auschwitz deportiert.

Ort der Täter, Erinnerung an die Opfer. „Topographie“-Direktor Andreas Nachama hört Ende des Jahres auf.
Ort der Täter, Erinnerung an die Opfer. „Topographie“-Direktor Andreas Nachama hört Ende des Jahres auf.
© Topographie des Terrors, Thilo Rückeis

Das Prinz-Albrecht-Palais, Zentrale von Gestapo und SS, wurde nach dem Krieg abgerissen. Weil die Deutschen sich nicht mit ihren Verbrechen befassen wollten?
Das ist eine Sicht von heute. Damals wollte man die Orte des Schreckens ausradieren, auch deshalb, weil die Opfer, die zum Beispiel im Hausgefängnis eingesessen hatten, sie nicht mehr sehen wollten. Es gab jene, die solche Orte nicht mehr ertragen konnten, und es gab andere, die Gras darüber wachsen lassen wollten.

Haben Sie Erinnerungen an den Ort?
Ende der siebziger Jahre habe ich für die Berliner Festspiele im Gropius Bau gearbeitet und als Kurator die erste Ausstellung vorbereitet, die dort gezeigt wurde: „Preußen – Versuch einer Bilanz“. Damals sagte mir meine Mutter, die das Kunstgewerbemuseum, also den Gropius Bau, mit der nebenan gelegenen Kunstgewerbeschule verwechselte, in der die Gestapo gesessen hatte: „Das war die schlimmste Adresse Berlins.“

Seitdem hatte ich das Thema auf dem Schirm. Ich war anschließend an den Planungen zum 750-jährigen Stadtjubiläum beteiligt, und dem damaligen Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker war klar, dass man nicht im Gropius Bau die Berliner Geschichte auf Hochglanz bringen konnte, ohne sich mit der Geschichte des Prinz-Albrecht-Palais auseinanderzusetzen.

Das Gelände grenzte direkt an die Mauer und beheimatete das „Autodrom“, wo man ohne Führerschein Auto fahren konnte.
Das war hier „Land’s End“. So hieß auch eine Kneipe gleich um die Ecke, wo wir vom Gropius Bau aus hingingen, um ein Bier zu trinken. Hier war die Welt sozusagen mit Brettern vernagelt, es war jottwede, wie der Berliner sagt.

Oft haben auch die Opfer geschwiegen.
Sie haben anders geschwiegen. Sie wussten, was passiert ist, viele wollten nicht mehr damit konfrontiert werden und versuchten, ein neues Leben zu beginnen, nach vorne zu schauen. Hinzu kam, dass viele Täter auch nach dem Krieg noch in Amt und Würden waren. Viele, die am Holocaust beteiligt waren, stammten aus der „Generation der Unbedingten“, wie sie der Historiker Michael Wildt nannte. Zwischen 1900 und 1910 geboren, waren sie nach dem Krieg im besten Alter.

Ihre Mutter hat den Holocaust in Berlin versteckt überlebt, Ihr Vater kehrte aus Auschwitz und Sachsenhausen zurück. Haben Sie darüber gesprochen?
Mein Vater hat meinen Kindern mehr erzählt als mir. Bei meiner Mutter war das anders. Sie hat nichts erzählt. Aber die Leute, bei denen sie versteckt war, das war sozusagen meine Familie. Wenn von denen jemand starb, kamen alle zusammen. Ich saß mit dabei und hörte, was sie von der Zeit der Verfolgung berichteten. Mit 12, 13 Jahren habe ich begonnen nachzufragen. Meine Mutter ist von der geschiedenen Frau einer der Kaufhausmagnaten Wertheim versteckt worden, im Gärtner- und Gesindehaus der Villa im Grunewald. Dort hat sie die meiste Zeit verbracht.

Die meisten Zeitzeugen, die den Nationalsozialismus erlebten, sind inzwischen tot. Wie verändert das die Erinnerungskultur?
Für die Geschichtsschreibung hat das keine Bedeutung, die Tatsachen sind gut erforscht. Aber es spielt eine Rolle bei der Ansprache von jungen Leuten. Der authentische Bericht eines Überlebenden ist beeindruckender als Bücher oder Filme. Inzwischen, so glaube ich, treten Orte an die Stelle der Personen. Das kann ein ehemaliges Konzentrationslager, die „Topographie“ oder ein Stolperstein sein.

In letzter Zeit zeigte die „Topographie“ Ausstellungen zu Tätergruppen, die in der Forschung bisher eine Nebenrolle spielten. Schärft sich der Blick auf den Holocaust?
Wir wollen zeigen, dass nicht nur die SS und die Gestapo gemordet haben, sondern dass auch Kinderärzte, ganz normale Beamte im Arbeitsministerium oder Kriegsberichterstatter zu den Tätern gehörten. Die Verbrechen wurden von der ganzen Gesellschaft mitgetragen, sonst hätte Hitler 1933 nicht an die Macht kommen können. Aber die Stimmungsberichte des Sicherheitsdiensts (SD), der sich ebenfalls auf dem Gelände befand, zeigen auch, dass es Unzufriedenheit und durchaus Tendenzen zum Widerstand in der Bevölkerung gab.

Nach einer neuen Studie haben 27 Prozent der Deutschen Vorurteile gegen Juden. Überrascht Sie diese Zahl?
Nein. Wenn man sich die Umfragen anschaut, die es seit den frühen fünfziger Jahren gibt, dann waren es immer 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung, die antisemitisch dachten. Neu ist aber, dass der Antisemitismus präsenter und öffentlicher wird. Aber schon Ignatz Bubis, der 1999 starb, sagte: „Früher kamen die Droh- und Schmähbriefe anonym, heute kommen sie mit Klarnamen und richtigem Absender.“ Es ist an der Zeit, einen neuen Anlauf zur Auseinandersetzung mit diesen inakzeptablen Vorurteilen und der Menschenfeindlichkeit zu nehmen.

Wie könnte das aussehen?
Mit dem Geschichtsunterricht in den Schulen ist es nicht getan. An den deutschen Universitäten gibt es nur drei Lehrstühle, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befassen. Da gibt es großen Nachholbedarf. Ähnliches gilt für die meisten theologischen Fakultäten – evangelischen wie katholischen –, wo man sich viel zu wenig mit der christlich-jüdischen Geschichte auseinandersetzt.

Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt?
Es gab einige wenige Situationen in meinem Leben, die ich als sehr unangenehm empfunden habe. Eine davon war, als ich als Quotenjude nachträglich in die Antisemitismus-Kommission des Bundestages berufen wurde. Das würde ich nie wieder machen, im Nachhinein in ein solches Expertengremium gehen.

Bekommen Sie Hassmails?
Möglicherweise, aber ich lese so etwas nicht. Schon als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin habe ich mir solche Äußerungen nicht angeschaut. Den Gefallen tu ich diesen Leuten nicht.

Ende des Jahres verlassen Sie die Topographie und treiben als Rabbiner das Projekt des „House of One“ voran. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?
Ich engagiere mich seit 1972 im jüdisch-christlich-muslimischen Dialog. Damals begannen Studenten in Bendorf am Rhein dieses Gespräch. Über die Jahre gab es neue Anläufe, und jedes Mal musste man wieder bei null anfangen. Es gab ein wunderbares Projekt am Fraenkelufer hier in Berlin. Eine katholische und eine evangelische Kirche, mehrere Moscheen und eine Synagoge waren beteiligt.

Es ging um Noah, Jugendliche haben ein Floß gebaut, wo es anlegte, wurde diskutiert. Ein Jahr später waren der katholische und der evangelische Pfarrer versetzt worden, zwei Imane in die Türkei zurückgekehrt. Mit dem „House of One“ wird es einen dauerhaften Ort der Zusammenkunft für Christen, Muslime und Juden geben. Ich hoffe, dass damit auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Gläubigen verschiedener Religionen entsteht. Es ist ein Anfang.

Bleibt es bei der Grundsteinlegung am 14. April 2020?
Davon gehe ich aus. Die 70 Pfähle, die das Haus tragen sollen, sind bereits in der Spreeinsel versenkt, die ja ein Morastgebiet ist. Mit der Fertigstellung ist 2024/25 zu rechnen. Die Finanzierung des ersten Bauabschnitts, der alles bis auf den Turm umfasst, steht. Die drei Sakralräume und der alles verbindende gemeinsame Raum können gebaut werden. Für den zweiten Bauabschnitt wollen wir dann während des Bauens Geld sammeln.

Am 14. April 1783 war die Premiere von Lessings Drama „Nathan der Weise“. Was können wir von dem Aufklärer lernen?
Dass das Wichtigste ist, miteinander zu sprechen. Man muss den anderen kennen lernen, auch aus dessen Sicht. Ich hatte das Glück, das Friedrich-Rückert-Gymnasium in Schöneberg zu besuchen. Einmal im Jahr, am Rückert-Tag, wurden seine Werke vorgestellt, zu denen auch die erste Übersetzung des Koran ins Deutsche gehört. So habe ich schon als junger Schüler gelernt, im Koran zu lesen.

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