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Heimlich kopiert. Am 22. Februar 1941 werden jüdische Männer zwischen 20 und 35 Jahren auf dem Jonas Daniël Meijerplein in Amsterdam von der deutschen Ordnungspolizei zusammengetrieben, gedemütigt und abtransportiert. Die Fotos eines vermutlich deutschen Polizisten hat der Laborant des Fotolabors kopiert. Sie wurden zu Ikonen der Besatzungszeit.
© NIOD

Holocaust in den Niederlanden: Der Blick von Tätern und Opfern auf die Judenverfolgung

Die Topographie des Terrors zeigt Fotos der Deportation in den Niederlanden. Für den Widerstand war die Kamera eine Waffe.

Während der deutschen Besatzungsherrschaft fielen drei Viertel der Juden in den Niederlanden dem Holocaust zum Opfer. In eindrücklichen fotografischen Momentaufnahmen dokumentieren René Kok und Erik Somers in der Fotoausstellung und deren Begleitband den Prozess der Stigmatisierung und Entrechtung der Juden bis zu ihrer Deportation.

Es sind vor allem private Bildzeugnisse eines Alltags im Ausnahmezustand, die die verzweifelten Versuche der Verfolgten belegen, noch glückliche Momente zu erleben in der Familie, mit Freunden und Leidensgenossen. Dies angesichts der wachsenden Erkenntnis, die die jüdische Niederländerin Etty Hillesum, die 1943 mit 29 Jahren in Auschwitz ermordet wurde, in ihrem Tagebuch notierte: „Von allen Seiten schleicht sich die Vernichtung heran, und bald wird der Kreis um uns geschlossen sein.“

Koks und Somers’ Bildzusammenstellung entstammt vor allem Archiven der Niederlande, aber auch des Auslands. Sie überzeugt durch Kontextualisierungen vieler Fotos, die Recherche der Entstehungsumstände und persönlichen Schicksale hinter den Bildern. Zahlreiche Fotografien repräsentieren die Perspektive der Opfer, darunter Amateuraufnahmen aus den Verstecken untergetauchter Juden, häufig bisher unveröffentlicht.

Auch Razzien und Deportationen wurden heimlich privat fotografiert. Diese besonderen Bildquellen sind umfangreich überliefert, denn die niederländische Widerstandsbewegung wollte Verbrechen der deutschen Täter und ihrer einheimischen Kollaborateure im Bild festhalten. Die Kamera sollte Dokumentarist und Zeuge werden, eine Waffe des Widerstandes. „De ondergedoken Camera“ (Die untergetauchte Kamera) nannte sich eine Gruppe im Untergrund aktiver Fotografen. So liegen Fotos des Terrors vor, die nicht im Auftrag der Täter angefertigt wurden.

Denn der überwiegende Teil der bekannten fotografischen Überlieferung des Holocaust bildet die Perspektive der Täter ab. Von den Deportationen der Juden im Deutschen Reich sind zum Beispiel fast ausschließlich Fotos überliefert, die im Auftrag der Gestapo oder kommunaler Stellen entstanden, von Polizeifotografen gemacht wurden oder von privat „knipsenden“ Tätern stammen.

Die Perspektive der Täter

Zahlreich finden sich auch solche „Täter-Fotos“. Sie spiegeln die Abbildungskonventionen und -intentionen der Täter, entstanden als interne Bilddokumentationen oder für nationalsozialistische Propagandamedien. Sie stammen auch von niederländischen gewerblichen Fotografen, die der „Nationaal-Socialistische Beweging“ (NSB) nahestanden.

[„Fotografien der Verfolgung der Juden - Die Niederlande 1940-1945“, Topographie des Terrors, bis zum 13. April 2020.]

Während die NS-Propaganda Fotos der Deportationen reichsdeutscher Juden tabuisierte, wurden sie in Hetzbroschüren der niederländischen Nationalsozialisten jedoch vereinzelt gedruckt. Sie dokumentieren heute ausschnitthaft Tatschauplätze und situative Merkmale des NS-Terrors, auch die für öffentliche Aktionen der Verfolgung typische Bildkonfiguration „Täter, Opfer, Zuschauer“, wie es der Holocaustforscher Raul Hilberg einst formuliert hat.

Deutlich wird in der Bildauswahl die politische Instrumentalisierbarkeit der Fotografie. So entstanden die aus dem Polizeilichen Judendurchgangslager Westerbork überlieferten Foto- und Filmaufnahmen im Auftrag des deutschen Lagerkommandanten. Es sind meist geschönte Aufnahmen, die einen Wartesaal der Vernichtung quasi als „lebenswerte“ Lagerwelt inszenieren. Die erdrückende Alltagsrealität überblendend, visualisieren sie die erwünschte Außen- und Selbstdarstellung der Täter.

Auch jüdische Fotografen mussten dokumentieren

Die Bilddokumentation musste zynischerweise der jüdische Fotograf und Kameramann Rudolf Werner Breslauer anfertigen. Wer in den Tagebüchern Etty Hillesums ihre schonungslosen Beobachtungen aus Westerbork liest, erkennt den frappierenden Gegensatz zu Breslauers Visualisierung. Signifikanteren dokumentarischen Wert besitzen dagegen dessen heute teils ikonisierte Filmfragmente der Abfahrt eines Deportationszuges.

Auch Fotos aus Dienststellen des „Jüdischen Rates“ in Amsterdam stilisieren dessen Arbeit als idealistische Unterstützung der verfolgten Juden und negieren wirkungsvoll dessen Funktion als Hilfsorgan der Geheimen Staatspolizei.

Sie zeigen vor der Deportation vorübergehend geschützte Mitarbeiter und Funktionäre der jüdischen Selbstverwaltung, nicht jedoch die Todesangst in den Gesichtern der vor den Bürotüren auf die „Sperre“, das zur Verschonung von der Deportation benötigte Dokument, Wartenden, von denen Etty Hillesum berichtet. Die Aufnahmen stammen von dem jüdischen Fotografen Johan de Haas, der im Auftrag des „Jüdischen Rates“ tätig war.

Die hier gezeigte Auswahl fotografischer Bildquellen konfrontiert uns in großer Unmittelbarkeit und Prägnanz mit der Geschichte der Verfolgung der Juden in den Niederlanden 1940–1945. Gleichzeitig lässt sie erkennen, dass Fotos der Kontextualisierung bedürfen, um in ihnen gespeicherte historische Informationen entschlüsseln und quellenkritisch einordnen zu können. Der große amerikanische Fotograf Richard Avedon brachte es auf den Punkt: „Alle Fotografien sind genau. Keine ist die Wahrheit.“

Klaus Hesse

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