Rabbiner Andreas Nachama: „Die Radikalisierung kam nicht über Nacht“
Der Historiker und Rabbiner Andreas Nachama im Gespräch über die Terrornacht und ihre Folgen bis heute.
Herr Nachama, warum verwenden Sie wieder den einst so verpönten Begriff „Kristallnacht“ im Titel der Ausstellung zu den Ereignissen rund um den 9. November?
Zum einen, weil es tatsächlich ein zeitgenössischer Begriff ist. Zum anderen, weil es auch im englischen Sprachgebrauch der Begriff ist, unter dem die damaligen Ereignisse in die Geschichte eingegangen sind. Und drittens, weil die Bezeichnung „Novemberpogrom“ einfach nicht die richtige Nennung wäre. All das ging von hier aus und ist eben nicht mit Pogromen gegen ethnische Minderheiten in Russland oder andernorts vergleichbar.
Was haben Ihnen Ihre Eltern von diesen Tagen berichtet?
Meine Mutter wohnte zu der Zeit in Berlin in der Jenaer Straße im Hochparterre. Ihr Vater, ihr Onkel und ihre Tante verbarrikadierten sich in den hinteren Zimmern der Wohnung, weil sie Sorge hatten, dass Brandsätze oder Steine in die Scheibe geschmissen würden. Das ist aber nicht geschehen.
Sie zeigen in der Ausstellung viele bisher unveröffentlichte Bilder. Haben diese Funde Sie überrascht?
Die Topographie des Terrors sucht ja seit Jahren in größer werdenden Bildbeständen nach Fotos, die eben nicht die offizielle Propagandafunktion erfüllt haben, sondern die von Knipsern, von Privatpersonen stammen. Das war 1987, als wir begannen, noch relativ schwierig. Doch in den letzten Jahren ist es – auch durch das Internet – viel einfacher geworden.
Gab es auch Menschen, die den Juden damals geholfen haben?
Da komme ich noch einmal auf meine Familie zurück. Ihre Hauswartsfrau war gleichzeitig Blockwart; sie hat die Familie geschützt. Ob sie das nun tat, weil sie keinen Brand in ihrem Haus haben wollte oder weil sie sie mochte, ist eine andere Frage. Man weiß aus Berichten des Sicherheitsdienstes der NSDAP, dass die Aktion bei der Bevölkerung nicht gut ankam. Doch nur wenige Berliner Pfarrer, unter ihnen Helmut Gollwitzer, haben danach zu diesem Thema gepredigt. Die meisten Menschen waren schon so weit eingeschüchtert, dass sie nicht mehr den Mund aufgemachten, obwohl sie das Geschehen missbilligten.
Wie erklären Sie sich die lasche juristische Aufklärung dieser Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg?
Wo sollte denn eine unabhängige Justiz herkommen? Schauen Sie nur, welche Kontinuität es bei Richtern gab, die in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und dann auch in der beginnenden Bundesrepublik tätig waren – bis in die 60er Jahre hinein. Da muss man sich nicht wundern, dass sie wenig motiviert waren, gegen diese Verbrechen vorzugehen. Um die hundert Personen diskutierten hier, gleich gegenüber im Reichsluftfahrtministerium – dem heutigen Bundesfinanzministerium – am 12. November unter der Leitung von Hermann Göring die Folgen des Pogroms. Den Juden wurde eine Milliarde Reichsmark auferlegt, um die Schäden wiedergutzumachen. Als wären sie es gewesen, die sie angerichtet hatten! Einer jener Männer war Karl Blessing, später von 1959 bis 1969 Bundesbankpräsident, der Woche für Woche als „Mister D-Mark“ durch die Nachrichten ging.
Kaum ein Land hat sich so intensiv mit den schlimmsten Phasen seiner Vergangenheit auseinandergesetzt wie Deutschland. Dennoch hat man heute das Gefühl, dass viele Menschen nichts verstanden, nichts gelernt haben. Wie erklären Sie sich das?
Ich möchte dem widersprechen. Wenn Sie sich die Umfragen zu Antisemitismus von den 50er Jahren bis in die Gegenwart anschauen, dann hatten stets 20 bis 25 Prozent der Befragten eine antisemitische Einstellung. Umgekehrt stellen wir fest, dass in den letzten Monaten die Zahl der Besucher in allen deutschen Gedenkstätten gestiegen ist. Daran erkennt man, dass die Diskussion um den Stellenwert der Geschichte immer stärker in der Öffentlichkeit stattfindet. Das führt dazu, dass die Menschen sich intensiver damit auseinandersetzen. Doch nicht alle erreicht man – das war immer so und wird wohl leider auch immer so bleiben.
„Der große europäische Bürgerkrieg darf sich nicht wiederholen“
Hätten Sie je gedacht, dass rechtsradikale oder antisemitische Parolen wieder aus der Mitte der Gesellschaft zu hören sind?
Ich bestreite, dass rechtsradikale Positionen jetzt tatsächlich salonfähig werden. Sie stehen derzeit im Fokus einer zu Recht kritischen Berichterstattung. Solche Phasen hat es in der Bundesrepublik alt bis 1989 und neu ab 1990 immer wieder gegeben. Das macht die Sache nicht besser, aber ich rate zu großer Gelassenheit. 1,3 Millionen Besucher pro Jahr in der Topographie des Terrors zeigen, dass es ein großes Interesse an der Geschichte gibt. Die Menschen wollen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Kontinent auf einmal in Schutt und Asche lag, dass es so gut wie keine Familie in Europa gab, die keine Opfer zu beklagen hatte – seien es gefallene Soldaten, seien es Ermordete im Holocaust. Ich glaube schon, dass Europa daraus Lehren gezogen hat und auch für die Zukunft ziehen will.
Wie sehen Sie die jetzige Ausstellung im Kontext der Arbeit in der Topographie des Terrors?
Wir werfen jetzt auch einen schärferen Blick auf die Täter und die in Teilen ausgebliebene juristische Aufarbeitung. Die Kristallnacht belegt eindrücklich, dass der millionenfache Mord an den Juden in Auschwitz und anderswo nicht „vom Himmel fiel“. Vom Judenboykott am 1. April 1933 über den 9. November 1938 bis hin zu einer industriellen Massenvernichtung kann man die Radikalisierung sehr deutlich ablesen; sie kam eben nicht über Nacht. Das war zum Beispiel in Griechenland, das nachts von der Wehrmacht besetzt wurde, oder in anderen überfallenen Ländern eine ganz andere Situation. Hier in Deutschland hat es einen langen Vorlauf gegeben. Auch der Mord an den europäischen Juden geht auf diese Entwicklung zurück; auch diese Täter mussten sich erst einmal radikalisieren. Also haben auch viele Menschen gesehen, was da passierte. Etwa die Hälfte der Juden aus Deutschland konnte sich noch durch Immigration in Sicherheit bringen. Polen dagegen wurde überfallen; da gab es keinen Vorlauf. Aus diesem Grund waren dort die Opferzahlen auch so hoch.
Wie sehen Sie im Rückblick die Entwicklung der Erinnerungskultur?
Vonseiten der Opfer hat es sehr früh ein Gedenken gegeben. Das gilt aber auch für die Erinnerung durch Nicht-Juden. Auch da waren schon früh Initiativen tätig, die den entscheidenden Ausschlag gaben. Die Ende der 40er Jahre gegründete Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit etwa ist eine der ältesten Bürgerinitiativen Deutschlands. All das hat eine Gedenkkultur „von unten“ entstehen lassen. Auch für ein staatliches Gedenken waren solche Initiativen im Grunde der Auslöser. Die Topographie des Terrors gäbe es ohne die Bürgerinitiative um das Gestapo-Gelände und das Aktive Museum ebenfalls nicht.
Wie können wir in die Zukunft blicken und die Erinnerung trotzdem wach und vor allem lebendig halten?
Wir sind auf einem relativ guten Weg: Es gibt Stolpersteine, kirchliche und staatliche Erinnerungsorte. Oft haben Zeitzeugen an ihrer Entstehung mitgewirkt. Hinzu kommen Erinnerungstage – und natürlich die persönlichen Erinnerungen einzelner Familien. Aber auch die riesigen Soldatenfriedhöfe sind ein Erinnerungszeichen. Wer sie sieht, begreift, dass da eine ganze Generation nahezu ausgelöscht wurde.
Wenn Sie mit jungen Deutschen über das Thema sprechen, reagieren dann jüdische Deutsche anders als ihre nicht jüdischen Altersgenossen?
Schwer zu sagen; so verlaufen diese Diskussion nicht. Es gibt eher Unterschiede in der Erinnerungskultur der Deutschen – jüdisch wie nicht jüdisch – im Vergleich zu der von Israelis oder Amerikanern. Da merkt man, wie unterschiedlich die Dinge reflektiert werden. Viele meinen, durch Europa gehe ein Erinnerungsriss zwischen West und Ost. Ich sehe das anders. Wenn wir das 20. Jahrhundert als das begreifen, was es war – dieser große europäische Bürgerkrieg –, müsste allen klar sein: So etwas darf sich im 21. Jahrhundert nicht wiederholen. Das eint Europa.
Das Gespräch führte Rolf Brockschmidt.
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