Alicja Kwade in der Galerie König: Die Zeit steht still
Bewegung, Verdichtung, Leere: Neue Arbeiten der Berliner Künstlerin Alicja Kwade in der Galerie König.
Scheinbar im Takt des eigenen Herzschlags begleitet einen das laute Ticken einer Uhr, während man die Treppen hinauf in den monumentalen Ausstellungsraum von St. Agnes steigt. Dort bietet sich ein verblüffender Anblick: Wie in gefrorener Zeit scheinen die jüngsten Skulpturen der Berliner Künstlerin Alicja Kwade bei Ankunft des Besuchers in ihrer Bewegung überrascht innezuhalten und zu erstarren. Nur eine kupferne Bahnhofsuhr und ein großer Stein schwingen in weiten Kreisen. Steht man darunter, fühlt man den Luftzug der nah über den Kopf hinweg wehenden Bewegung und begreift: Der eigene Herzschlag ist das unaufhörliche Ticken der Lebensuhr. Der Titel der Arbeit „Die bewegte Leere des Moments“ entfaltet wie selbstverständlich seine Wirkung auf den Betrachter.
Dies steht im Gegensatz zum sperrigen Titel der Ausstellung „Entitas“, der an mittelalterliche Philosophentexte erinnert. Doch Kwades Skulpturen setzten sich ebenfalls mit Grundsätzlichem auseinander: Bewegung und Stillstand, Leere und Verdichtung sowie Stille und Geräusch sind wesentliche Parameter ihrer künstlerischen Auseinandersetzung, die manchmal ins Absurde laufen. So wird in der Arbeit „Eigenbahn“ ein Stuhl kopfüber in einem Stahlring gehalten, und man vermag nicht recht zu verstehen, wie das funktioniert, da die Arbeit gleichzeitig instabil aussieht.
Oszillation, Variation und Möglichkeit
Die Künstlerin geht von stets parallel verlaufenden und wandelbaren Zuständen aus. Diese stellt sie nebeneinander. Kwade zeigt damit ihre Vorstellung von beständig unterschiedlichen Realitäten auf, die sie nebeneinander in verschiedenen Varianten darstellt – wie in den beiden Arbeiten „abarchairisabarchirisabarchair“ und „awalkingstickisawalkingstickisawalkingstick“ . Die Skulpturen scheinen zwei Hälften eines massiven Baumstammes zu sein, aus denen man je einen Spazierstock und einen Barhocker geschnitzt hat. Die drei Skulpturen der Serie „Fall“ (je 90 000 Euro) bestehen aus jeweils zwölf gleich langen Kupferstangen und zeigen in drei unterschiedlichen Zeitstufen jeweils den Moment, in dem jene Stangen zu Boden fallen. In den Arbeiten klingt förmlich noch das Geräusch des stürzenden Metalls nach. Auch in der Arbeit „9 Seconds“ (72 000 Euro) zeigt sich der Ablauf des Fallens von Metallringen: Ein chromglänzender Stahlreifen ist jeweils so an einem unteren Stahlreifen befestigt, dass es aussieht, als ob ein Ring in neun Aufnahmen in Zeitlupe fallen würde.
In Kwades Versuch, dem Wesen der Dinge näherzukommen, beschreibt und interpretiert die Künstlerin alltägliche Phänomene und Objekte in ihren Bewegungen und Wandlungen. Oszillation, Variation und Möglichkeit sind künstlerische Strategien ihrer Arbeit. Vor einigen Jahren stieß sie in Neubrandenburg auf einen Gesteinsbrocken. Die chemische Zusammensetzung des Findlings ließ sie im Labor analysieren und eine exakte Nachbildung mittels 3D-Technik aus dem gleichen Gestein herstellen. Seitdem arbeitet sie immer wieder mit den Kopien. Diese nicht von der Natur geformte, sondern künstlich erschaffene „Original-Kopie“ ist der Basisstein in der Mitte der Arbeit „Trans-For-Men 8 (Fibonacci)“. Zur linken Seite wird das Volumen der Kopie heruntergerechnet, zur rechten Seite die Informationsdichte zur Kugel konzentriert. Aus einem Ursprungsvolumen des Findlings hat Kwade nach unterschiedlichen rechnerischen Mustern anders gestaltete Objekte konzipiert. „Fibonacci" im Titel der Arbeit (200 000 Euro) verweist auf die berühmte Zahlenfolge des mittelalterlichen Mathematikers, der damit das Wachstum einer Kaninchenpopulation beschrieb. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die Fibonacci-Folge auch Wachstumsvorgänge von Pflanzen beschreibt. Sie scheint eine Art Muster in der Natur aufzuzeigen: Aufgrund der Beziehung zur vorherigen und zur folgenden Zahl folgt das Wachstum in der Natur damit offenbar einem Additionsgesetz.
Alles ist offen, kann anders sein
Auch die Einzelarbeiten „Multi-Teller“ gibt es in drei Varianten mit unterschiedlich langen Stahlrohren in Beton mit darum auf dem Boden platzierten Erdplaneten blauen Macauba-Gesteinskugeln (80 000–120 000 Euro) . Zunächst unverständlich, erschließt sich der Sinn dieser Arbeit erst bei „Inbetriebnahme“ des „Multi-Tellers“: Beim Blick durch die Rohre sieht man unterschiedliche weit entfernte Ausschnitte der Welt. „Wie eine Orgel im Kirchenraum“, erläutert Alicja Kwade „wird die Musik, wie auch die Welt durch unterschiedliche Schwingungen von Tönen und Energien erzeugt.“ Sie nimmt damit Bezug auf den ehemaligen Kirchenraum der Galerie König, in dem ihre Ausstellung stattfindet und ebenso auf die wissenschaftlich geprägten Vorstellungen, dass Masse und Atome von mehr oder weniger verdichteter Energie und deren Schwingungen geformt sind.
Hier wie überall versagt sich Kwades Arbeit der festen Zuschreibung von Zuständen und Dingen. Alles ist offen, kann anders sein, wie auch die „Multi-Teller“- Skulpturen als „Welterschaffungsmaschinen“ verstanden werden können, um die herum die blau glänzenden Kugeln wie Planetenkugeln aus Parallelwelten verstreut liegen. Mit den zwölf Skulpturen der Ausstellung wird der Betrachter in den Kosmos der „Entitas“, der Frage nach dem Wesen der Dinge gezogen, in denen sich am Beispiel einfacher Fragestellungen ganze Welten eröffnen.
Sinnierend steigt man die Treppen der Kirche wieder herab, beschäftigt mit den großen Fragen der Existenz.
Galerie König, Alexandrinenstr. 118–121; bis 11. 11., Di–Sa 11–19 Uhr
Heike Fuhlbrügge