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Alicja Kwades Skulptur „Revolution (Gravitas)“ von 2018 aus Steinen und Stahl im Garten der Villa.
© Noshe

Alicja Kwade und Jorinde Voigt in Potsdam: Ständiger Perspektivwechsel

Zwei Equilibristinnen: Die Berliner Künstlerinnen Alicja Kwade und Jorinde Voigt zu Gast in der Potsdamer Villa Schöningen.

Die Uhr tickt, aber das Zifferblatt zeigt keine Zeit an. Die verspiegelte Glasscheibe verweigert jeden sichtbaren Zugriff auf Minuten oder Stunden und wirft die Betrachter auf sich selbst zurück. Die Arbeit von Alicja Kwade ist bereits 2007 entstanden. In der Potsdamer Villa Schöningen aber, unweit der Glienicker Brücke, erhält sie eine andere, politische Dimension. Die blind tickende Uhr wirkt wie das Sinnbild für die Vergangenheitsvergessenheit einer von Ängsten getriebenen Gegenwart.

„Shift Matters“ heißt die feine Ausstellung in der Villa Schöningen. Während die Dauerausstellung im Erdgeschoss an den Kalten Krieg und die Erstarrung an der deutsch-deutschen Grenze erinnert, beschwören Alicja Kwade und Jorinde Voigt im Obergeschoss den Zauber der Veränderung.

Die beiden Künstlerinnen experimentieren mit Gewichten, Strömungen und Rhythmen. Erproben Machtverhältnisse und die Kraft von Gedanken. „Shift Matters“ ist eine Ausstellung über Balance und die Freiheit der Equilibristinnen, die auch auf wackligen Drahtseilen nicht verzagen. Beide Künstlerinnen werden von der Galerie König vertreten, beide haben zumindest zeitweise bei der Bildhauerin Christiane Möbus studiert.

Voigt lässt sich treiben, Kwade geht in die Konfrontation

In den „Candle Columns“ von Alicja Kwade scheinen die Einflüsse der Lehrerin durch. Aus farbigen Kerzen hat die Künstlerin zwei Stäbe zusammengeschmolzen – zwei Porträts. Leuchtend bunt, bereit zum Höhenflug, lehnt „Jorinde“ in der einen Ecke, dunkel violett geerdet „Alicja“ in der anderen. Dazwischen steht „Abakus“, die große Rechenmaschine, deren Kugeln zu Boden gefallen sind. Während Alicja Kwade zutiefst zweifelt an der Vermessbarkeit von Zeit und Raum, arbeitet Jorinde Voigt obsessiv an Koordinatensystemen, um die Welt in vermeintlich objektiven Daten zu erfassen.

Entsprechend wissenschaftlich wirken ihre Titel. Für „Collective Time (Top 100 America’s Greatest Love Stories / Movie 1 – 10) aus dem Jahr 2009 dokumentiert sie in schwebenden Bögen die Zeit, die Kinobesucher in den großen Liebesfilmen dieser Welt zugebracht haben, von „Doktor Schiwago“ bis „Vom Winde verweht“. Auch Jorinde Voigt hat einmal ihre statistische Forschung auf Messlatten aufgemalt. Hier besteht der Reiz der Blätter darin, dass die Zeichnungen ihre eigene Musikalität entwickeln, dass die Statistiken eher Partituren gleichen, Notensystemen, die sich in den Raum dehnen. Das anfänglich schwarz-weiße Werk wagt sich inzwischen weit in die Farbe vor, Jorinde Voigt nutzt Blattgold und schwarze Federn. Damit geht sie das Risiko ein, in die Nähe zum Ornament zu geraten, sie schafft aber noch die Kurve, indem sie mit Zahlen und Notaten Gedanken und Schwingungen systematisiert.

Jorinde Voigt lässt sich vom Fluss der Informationen treiben, Alicja Kwade dagegen geht in die Konfrontation. „Hemmungsloser Widerstand“ heißt ein Balanceakt, bei dem schwere Steine von einer schief gelagerten Glasplatte durchschnitten werden. Wer besiegt wen? Der Stein das Glas oder umgekehrt? Eine kleine Verschiebung, schon ändert sich das ganze Kräfteverhältnis.

Die kleinsten Verschiebungen eröffnen neue Räume

Geschickt hebt die Ausstellung die Stärken der beiden Berliner Künstlerinnen hervor – die Akribie bei Jorinde Voigt, die Absurdität bei Alicja Kwade. Eine ihrer schönsten Arbeiten verwendet die Uhrzeiger ohne das Zifferblatt. Winzige, silbrig schimmernde Zeiger bilden wie Brokatstickerei regelmäßige Muster auf der Leinwand. Das Großformat zeigt ein Jahr als abstrakte Anordnung und verrät nichts von der langwierigen Mühe der Handarbeit.

Die Begegnung der beiden Künstlerinnen lebt vom kontinuierlichen Perspektivwechsel. Die leichte Lesbarkeit bei Alicja Kwade erhält Volumen durch die vergeistigten Systeme von Jorinde Voigt. Deren Luftigkeit wiederum gewinnt Gewicht neben den greifbaren Objekten ihrer Kollegin. „Shift Matters“ – im Dialog eröffnet selbst die kleinste Verschiebung neue Räume. Ein gutes Rezept gegen die Sehnsucht der Gegenwart nach Grenzen und Autoritäten.

Villa Schöningen, Berliner Str. 86, Potsdam, bis 22. 7.; Do - So 12 - 18 Uhr

Simone Reber

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