100 Jahre Ufa: Die unendliche Geschichte
Hundert Jahre Traumfabrik: Die Ufa überlebte ein Kaiserreich und zwei Diktaturen. Heute ist sie vor allem ein Mythos.
Für Außenaufnahmen wäre der Bau geradezu ideal. Im Inneren dieser Fabrik werden aber keine Glühbirnen hergestellt, sondern Träume produziert und Stars geboren. Marlene Dietrich war so ein Fall. In dieser 5400-Quadratmeter-Halle begannen am 4. November 1929 die Dreharbeiten zum „Blauen Engel“, da war sie achtundzwanzig Jahre alt. Am 22. Januar 1930 fiel die letzte Klappe, und Marlene Dietrich kam als Star in die Welt. Josef von Sternberg drehte jede Szene mit der männermordenden Lola auf Deutsch und direkt anschließend für den internationalen Markt in englischer Sprache. Marlene sang von den Männern, die sie umschwärmten wie Motten das Licht und bestand darauf, dafür könnten sie nun mal nichts, denn das sei ihre Welt. „Men flock around me like moths around a flame and if their wings burn I know I’m not to blame“ – was auch gut gelang bis auf die moths, die sich bei ihr stets anhörte wie moss, also wie Moos – und das brannte nun wirklich nicht.
Irgendwann war es sogar dem Regisseur, der Schauspieler als knetbare Spielmasse betrachtete, zu viel. Er gab nach der 250. Wiederholung auf und befahl einem Statisten, genau an der Stelle ihres Gesangs laut zu brüllen – „ein Bier, ein Bier“ – wodurch die falsche Aussprache übertönt wurde. Als Marlene Dietrichs Geburtsort ist eingetragen Babelsberg, wo auch die hundertjährige alte Dame Ufa zu Hause ist, als Erzeuger gilt Josef von Sternberg, und als Taufpaten sind Carl Zuckmayer und Heinrich Mann verzeichnet. Der Schriftsteller aus Lübeck schrieb den Roman, der als Vorlage für den Film diente, „Der Untertan“, Zuckmayer arbeitete mit am Drehbuch. Das Geburtshaus, einst das größte Atelier Europas, heißt heute Marlene-Dietrich-Halle.
Der allererste Babelsberger Film, Kamera: Guido Seeber, im Winter 1911/1912 inszeniert, hieß „Der Totentanz“. Sein Star Asta Nielsen, in einem für die Handlung vorgeschriebenen Sommerkleidchen, soll im unheizbaren Gläsernen Filmatelier, früher Produktionsstätte einer Kunstblumenfabrik, ganz erbärmlich gefroren haben. Sie überlebte die Dreharbeiten und ist seitdem ebenfalls unsterblich. Die Dänin war der erste Star des Stummfilms, denn ihr Totentanz war für damalige Verhältnisse eine gewagte Show.
Die Ufa wurde unter Goebbels voll ins System integriert
Finanziert vom Kaiserreich und der Deutschen Bank, vereinigten sich 1917 ein paar kleinere Filmfirmen zur Universum Film AG, abgekürzt Ufa. Der Name klingt nach großem Kino, sogar heute noch. Müsste man einen Trailer produzieren, der Ahnungslose und Nachgeborene neugierig machen soll auf die gloriose Stummfilm-Ära in Babelsberg mit den Menschen am Sonntag oder den Nibelungen oder mit Dr. Mabuse, würde sich der Regisseur in schnellen Schnitten dem wahnsinnigsten Ufa-Projekt nähern. Da war die Science-Fiction-Story „Metropolis“ von Fritz Lang: siebzehn Monate Drehzeit zwischen 1926 und 1927, 36 000 Komparsen, eine Million Meter Film. Ein Flop an der Kinokasse.
Ende der zwanziger Jahre war die Ufa auch wegen dieser teuren Produktion fast pleite. Der Großverleger Alfred Hugenberg, Chef der Deutschen Volkspartei, einer der geistigen Wegbereiter Hitlers, kaufte die Firma und überließ sie ab 1933 der nationalsozialistischen Reichsfilmkammer, die fortan entschied, was im Dritten Reich gearbeitet werden durfte und was nicht – und vor allem mit wem nicht. Mit den zahllosen jüdischen Regisseuren, Darstellern und Autoren zum Beispiel. Bis ihm Propagandaminister Goebbels 22 Millionen Reichsmark überweisen ließ und die Ufa als Mittel zum Zweck voll ins System integriert wurde: Hetzfilme auf der einen, anheimelnde Unterhaltung auf der anderen Seite. Modernste Technik im sogenannten Tonkreuz in Form eines Plus-Zeichens in vier Studios.
Fritz Lang emigrierte nach Hollywood
Joseph Goebbels, nicht nur wegen seines Hinkefußes „Bock von Babelsberg“ genannt, weil er für sich das Vorrecht Besetzungscouch reservierte, bot Fritz Lang den Job eines Reichsfilmintendanten und freie Hand bei Besetzungen an, falls er sich in den Dienst des Regimes stellen würde. Doch der bestieg bald darauf den Zug nach Paris und emigrierte von dort ein Jahr später nach Hollywood, wo er andere anständige Vertriebene traf. Große Berliner Namen waren darunter, wie Billy Wilder, Josef von Sternberg, Ernst Lubitsch, Gitta Alpar, Peter Lorre.
Von dem ist ein Satz überliefert, der sogar erfunden gut wäre für jeden Film. Lorre, berühmt geworden als Hauptdarsteller in Fritz Langs „M“, der auf der wahren Geschichte des Kindermörders Peter Kürten basiert, sagte einmal: „Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist kein Platz in Deutschland.“ Der US-Komiker Robin Williams wurde einmal von einer deutschen Journalistin gefragt, woran es denn liege, dass man den Deutschen nachsagt, es fehle ihnen an Witz und Humor? Vielleicht, antwortete er, liege es daran, dass die Deutschen alle ermordet hätten, die darüber verfügten.
Neues Kapitel nach der Wiedervereinigung
Von den Filmen, die in der DDR gedreht wurden, sind nur eine Handvoll in Erinnerung geblieben: „Jakob der Lügner“, „Die Legende von Paul und Paula“, „Die Spur der Steine“ oder „Ich war neunzehn“ vom großen Konrad Wolf. Viele Regisseure flüchteten in unverfängliche Historienschinken oder Märchenfilme. Den legendären Namen Ufa als bindende Hülle, als Symbol für ihre Produktionen und für Großkinos, hatten sich westdeutsche Konzerne gesichert.
Nach der Wiedervereinigung begann die unendliche Geschichte mit einem neuen Kapitel. Jede Zeit hat ihren Ort, aber jeder Ort auch seine Zeit. Nicht nur Kunst oder zumindest Kunsthandwerk, sondern auch die erfolgreichste deutsche Seifenoper, deren Dialoge von keines noch so kleinen Gedankens Blässe angekränkelt sind, wird in Babelsberg von der Ufa produziert. „Gute Zeiten schlechte Zeiten“ läuft seit Anfang der neunziger Jahre fünfmal pro Woche auf RTL.
Schlöndorff war 1992 bis 1997 Geschäftsführer
Wer heute mitspielen will im Business, muss aber auch mehr zu bieten haben. In Babelsberg war man auch den Wünschen der großen Regisseure hörig. Sonst hätte ein Quentin Tarantino seine kontrafaktische Kriegsgroteske „Inglorious Basterds“ wohl anderswo gedreht. Gleiches gilt für Bryan Singer und Tom Cruise mit „Operation Walküre“ oder Wes Andersons „Grand Hotel Budapest“. Es gibt einen 500 000 Liter fassenden Wassertank, in dem krimigerecht Autos versinken oder unter Wasser gekämpft wird oder ein täuschend echtes russisches U-Boot taucht. In den Kulissen der Berliner Straße lassen sich Szenen des erfolgreichen Fernsehdreiteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“ ebenso drehen wie mit ein paar Änderungen in den Namen von Kneipen und Geschäften auch Straßen in Prag simulieren – oder das von Deutschen besetzte Warschau in Roman Polanskis „Der Pianist“. Im vergangenen Jahr wurde für die Großproduktion „Babylon Berlin“ die Außenkulisse „Neue Berliner Straße“ für acht Millionen Euro errichtet.
Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff war von 1992 bis 1997 Geschäftsführer der Filmstudios in Babelsberg. Der Weg dorthin im Jaguar, den ihm einst Max Frisch schenkte, dauert von seinem Haus am Potsdamer Ufer des Griebnitzsees sieben Minuten. Und fast so berühmt wie das Studio war er selbst. Um stets daran erinnert zu werden, dass auch er in einer Tradition von ganz Großen stand, heftete er seine eigene Fortsetzung von Billy Wilders berühmtem Motto „How would Lubitsch do it?“ an die Wand seines Büros: „How would Billy do it? Would he do it?“ Wie würde Billy es machen? Würde er es überhaupt machen?
Neue Arbeitszeiten in Babelsberg
Als damals Inventur gemacht wurde, beugte sich Volker Schlöndorff über Businesspläne statt über Drehbücher – und Arbeitsplätze gingen für immer verloren. Platzten Träume an jedem Tag. Gewohnt waren die Mitarbeiter es bis dahin, morgens um sechs Uhr zu beginnen und sich spätestens um 14 Uhr auf den Heimweg zu machen. Der Neue erklärte ihnen den Aufbruch in eine neue Zeit, dass man heute auch um 19 Uhr noch seiner Arbeit nachgehe, denn dann würden die Big Shots in Hollywood gerade mal in ihren Büros eintreffen.
1996 wurden die alten Rohre aus der Kanalisation ausgebuddelt, die dort seit den zwanziger Jahren vor sich hin rotteten. Schlöndorff schaute neugierig zu. Sobald irgendwo in seinem Reich gegraben, geschraubt, gebohrt, gehämmert, gestrichen wurde, hielt es ihn nicht im Büro. Er stand also an der Grube und starrte hinunter. „Chef“, rief einer der Arbeiter herauf, „riechen Sie mal. Hier ist noch die Scheiße von Marlene drin.“
Michael Jürgs lebt als Autor und Journalist in Hamburg. Er war Chefredakteur von „Stern“ und „Tempo“ und veröffentlichte dieses Jahr auf der Webseite des Tagesspiegels den Online-Fortsetzungsroman „Und erlöse uns von allen Übeln“.
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