Der Film „Körper und Seele“: Die Rettung der Menschlichkeit
Für ihr magisches Melodram „Körper und Seele“ gewann Ildikó Enyedi den Goldenen Bären. Eine Begegnung mit der großen ungarischen Regisseurin.
Eine Kuh wird geschlachtet. Sie wird in ein Metallgatter gezwängt, sie kann sich nicht regen, schaut den Betrachter unverwandt an. Dann fällt der Kopf. Ein paar Minuten später ist die Kuh in Einzelteile zerlegt, frisches Fleisch für den Metzger. Eben noch sah man dem Tier in die Augen.
Ildikó Enyedi hat einen Film im Schlachthof gedreht, eine Liebesgeschichte. Nein, sagt die ungarische Regisseurin beim Gespräch in Berlin, eine kleine, herzliche, ungemein einnehmende Frau mit schwarzer Brille und heller Stimme. Nein, der Schlachthof ist keine Metapher für Ungarn oder Europa. Es ist nur ein Ort der Ehrlichkeit. „Es gibt zu viel Heuchelei in der westlichen Gesellschaft, wir essen Steak und wollen nicht wissen, woher es kommt.“ Eine Woche lang drehten Enyedi und ihr Team in einem Schlachthof in Ost-Ungarn, 200 Kilometer von Budapest entfernt. Mittags aßen sie im Restaurant nebenan, das demselben Eigentümer gehört. Sie wussten, sie essen das Fleisch der Tiere, die sie zuvor gefilmt hatten. Die Filmemacherin isst selten Fleisch, aber in dieser Woche tat sie es jeden Tag.
Nur Endre interessiert sich für die Schattenexistenz Maria
„Körper und Seele“ ist ein Film über die Rettung der Menschlichkeit an einem Schauplatz des Tötens. Die Qualitätskontrolleurin Maria (Alexandra Borbély) ist neu im Betrieb. Die Frau mit dem zarten, blassen Gesicht verschanzt sich hinter ihrem Monitor, sitzt in der Kantine lieber allein, zieht beim Pausengang den Fuß aus der Sonne zurück. Eine Schattenexistenz. Die anderen machen sich lustig. Nur Endre, der Geschäftsführer (Géza Morcsányi), möchte sich zu ihr gesellen, aber sie will nicht. Endre hat einen gelähmten Arm, auch er lebt allein und verbringt die Abende vor dem Fernseher.
Eines Tages kommt eine Psychologin und befragt die Angestellten, weil potenzsteigerndes Bullenpulver im Betrieb gestohlen worden ist. „Wer auf dem Schlachthof arbeitet, tötet jeden Tag, ist von Blut und Kadavern umgeben“, stellt Enyedi klar. Und nicht in jedem Hof wird den Tieren so viel Respekt gezollt wie dort, wo sie gedreht haben. „Deshalb kommt es oft zu sadistischen Ausfällen, einfach weil es zu viel ist.“ Ihr Film zeigt beides: das Machtgebaren und die Verrohung derer, die tagtäglich mit Messern hantieren. Aber auch das Bemühen um einen anständigen Umgang mit dem Schlachtvieh. Endre gehört zu denen, die auf die Moral achten im Betrieb.
Bei der Psychologin stellt sich heraus, dass Maria und Endre die gleichen Träume haben. Die scheue Frau mit den Sozialphobien und der vom Leben verletzte Mann träumen jede Nacht von einem Hirsch und einer Hirschkuh. Bleiche Sonne, lange Schatten, die weißen Plastikschürzen der Schlächter, das rote Tierblut: Nacht für Nacht weichen die strengen Bildkompositionen des Schlachthofs (Kamera: Máté Herbai) einem üppigen Wald mit glasklaren Bächen, raschelndem Laub und den beiden Tieren. Ihr Fell, ihr Atem in der Kälte, die feuchten Schnauzen, mit denen sie Nahrung suchen und einander anstupsen – es ist die sinnliche Gegenwelt zur Sterilität der Fabrik. Ildikó Enyedi inszeniert diese Träume derart hyperrealistisch, dass man den Wind und den Schnee förmlich auf der Haut spüren kann.
Überhaupt ist Enyedis Film von bezwingender Sinnlichkeit. Selbst die stilisierten Tagwelt-Bilder entwickeln eine Intensität, dass eine Zuschauerin bei der Berlinale-Vorführung im Friedrichstadtpalast eine Kreislaufschwäche erlitt. In Ungarn wurden auch Männer ohnmächtig. Nicht bei den Szenen im Schlachthof, sondern dann, als menschliches Blut fließt und Maria es um ein Haar doch nicht schafft, diesseits der Träume ins Leben zu finden.
Zwei verlieben sich ineinander - weil die ihre Träume teilen
Wie viel Ildikó Enyedi steckt in Maria? „Ich stecke in beiden Helden“, gesteht die Regisseurin. 1955 in den Realsozialismus hineingeboren, war sie als Kind scheu und unbeholfen, saß in der Schulbank und las. Bis heute vermeidet sie Smalltalk. Einfach Zeit totschlagen zusammen, sie konnte es nicht und sehnte sich doch danach. „Denn selbst wenn wir nur übers Wetter reden, signalisieren wir einander ja auch, hallo, ich interessiere mich für dich.“ Wenn es aber etwas Konkretes auf die Beine zu stellen gilt, wurde sie schon immer lebhaft und dominierte im Nu das Geschehen. Als Konzept- und Medienkünstlerin gehörte Enyedi bald zur ästhetischen Avantgarde ihres Landes, zur stillen Opposition im Ostblock.
Was für eine Filmidee. Zwei verlieben sich ineinander, weil sie ihre Träume teilen. Und was für eine Kinometapher. Auch wer im Kinosaal sitzt, teilt seine Träume, befindet sich mit den anderen Zuschauern im gleichen magischen Raum. Vielleicht kam Enyedi deshalb dieser Plot in den Sinn: Wie wäre es, wenn man zufällig feststellte, dass ein nur flüchtig bekannter Arbeitskollege das Gleiche träumt? Was würde man dann tun?
Lange hat sie kämpft, um diesen Film machen zu können
„Körper und Seele“ ist Enyedis fünfte Filmproduktion. Sie gewann auf der Berlinale im Februar den Goldenen Bären dafür – 28 Jahre nach ihrem in Cannes preisgekrönten Regiedebüt „Mein 20. Jahrhundert“, der poetisch-märchenhaften und zugleich feministisch-kämpferischen Orientexpressreise von Zwillingsschwestern in der Silvesternacht 1899. Und 19 Jahre nach ihrem letzten Werk, dem philosophischen Krimi „Simon Mágus“. Warum das entsetzlich lange Warten? Etliche Projekte platzten, manche nach jahrelangem Bemühen. „Es kann jedem passieren, es ist schmerzhaft. Auch Giganten wie Akira Kurosawa haben das erlebt, er dachte darüber nach, sich das Leben zu nehmen.“
Enyedi hatte Pech mit Koproduzenten, ließ sich mit den falschen Leuten ein, dann kollabierte Ungarns Filmindustrie. Nicht dass sie resignierte. Sie promovierte, unterrichtete in Budapest, in Polen und der Schweiz, nennt es eine „aktive Depression“. Schließlich übertrug HBO ihr die Regie für die TV-Serie „Terapia“, es geht darin um die Arbeit eines Psychologen. Das rettete sie.
Nach und nach öffnet sich Maria für die Welt
Das Drehbuch zu „Körper und Seele“, auf Ungarisch „Teströl és lélekröl“, schrieb sie dann sehr schnell, schließlich kannte sie die lädierten Seelen ihrer Helden genau. Die beiden fangen an, einander zu erzählen, wie die Liebe der Hirsche im Traum weitergeht – mühelos. In der Tagwelt ist es umso mühsamer, vor allem für Maria; die Ängste halten sie gefangen. Also probiert sie Nähe aus, trainiert Kommunikation – was Ildikó Enyedi Gelegenheit gibt, die jedem guten Drama innewohnende Komik auszuspielen. Mal übt ihre Heldin mit Salz- und Pfefferstreuer, mal mit Playmobil-Figuren, mal mit Kartoffelpüree. Wir fühlt sich Kartoffelpüree an, wenn man die Finger darin vergräbt? Nach und nach öffnet sich Maria auf ihre eigene, ungelenke Weise für die Welt und die Menschen.
Ildikó Enyedi lacht. Ihr eigenes Training, das waren nicht zuletzt ihre Kinder. Mit ihnen erlebte sie eine Art zweite Kindheit, lernte endlich Schwimmen und Radfahren. „Als wir Fördergelder beantragten, schrieb ich zur Erklärung, dass die Wunden meiner Protagonisten daher rühren, dass das Leben an ihnen zehrt, obwohl es durchorganisiert und beschützt ist. Wir alle in Mitteleuropa erleben eine Menge Grausamkeiten, Dinge, die wir lieber nicht sehen wollen, aber sie sind trotzdem da.“
"Jeder Mensch ist ein Kleinod", sagt Ildiko Enyedi
Enyedi nennt als Beispiele die Geburt ihrer Kinder im Budapester Krankenhaus und den Tod ihres Vaters, ebenfalls im Krankenhaus. Zwei existenzielle Erfahrungen inmitten medizinischer Technik: Auf alles wurde geachtet, nur nicht auf die Menschenwürde. „Früher bot die Religion Rituale, heute ersetzen wir die Intensität des Erlebens durch Professionalität, Effektivität und Routine.“
Die Regisseurin fügt ihre Sätze sorgsam zusammen, sie formuliert auf den Punkt, sanft, aber bestimmt. Vielleicht klingt es deshalb kein bisschen esoterisch oder gefühlsduselig, wenn sie von den Defiziterfahrungen der Menschen spricht, davon, dass wir alle umeinander herumsurfen, uns einfügen und nicht auffallen wollen. „Dabei ist jeder Mensch ein Kleinod. Wir verstecken unsere eigene Kostbarkeit.“ Es geht ihr um Präsenz, um „Nowness“, wie sie auf Englisch sagt. Auch das sind die Hirsche im Film: einfach da, hier und jetzt, uneingeschränkt.
Eine Romanze, erzählt auf unromantische Weise. Nüchterner lässt sich ein Melodram kaum ins Bild setzen, gerade deshalb geht es zu Herzen. Weil die märchenhafte Moritat keine Botschaft kolportiert, weil Enyedi Zurückhaltung übt. Bloß nicht das eigene Können zur Schau stellen, auch nicht die Brillanz der Kamera. Die Tagbilder sind so scheu wie Maria.
Melancholie und Magie: Das ist ihr Kino
Und Ungarn, das sich unter Viktor Orbán von Europa entfernt und die Freiheit der Meinung wie der Kunst immer mehr einschränkt? Darüber will Enyedi nicht mehr sprechen. Auf der Berlinale hatte sie gesagt, dass sie sich schämt für ihr Land, und in Ungarn riesigen Ärger bekommen. Nicht mal die Hausmeisterin grüßte sie mehr, erzählte ihr Ehemann, der deutsche Literaturdozent Wilhelm Droste, kürzlich im Tagesspiegel. Und man ist selber beschämt, weil man sie ohne Not bittet, schon wieder deutliche Worte zu finden.
Enyedi möchte, dass es weitergeht mit dem Film in Ungarn, jetzt, wo es mit der Branche aufwärtsgeht und es wieder mutige Filmförderer gibt. 2017 ist ihr Jahr, sie hat den Goldenen Bären gewonnen, wurde in die Oscar-Academy aufgenommen und war Mitglied der Jury beim Filmfest Venedig, die „The Shape of Water“ auszeichnete, ein poetisch-politisches Märchen. Poetischer Realismus, Melancholie und Magie, das ist auch das Kino von Ildikó Enyedi. Man möchte unbedingt mehr davon sehen. Und wünscht ihr, dass sie nie wieder Pech hat mit einem Projekt.
Ab Donnerstag in 12 Berliner Kinos. OmU: Delphi Lux, fsk am Oranienplatz, Kino in der Kulturbrauerei, Krokodil