Weniger Hype, mehr Demut: Die Pandemie hat das Filmfest Venedig radikal verändert
Mit dem Filmfestival in Venedig versucht die Branche, Normalität zu simulieren, auch wenn Stars fehlen. Doch vielleicht tut die Bescheidenheit dem Kino gut.
Es ist in diesen Tagen ruhig in der Lagune. Sie gehört fast ausschließlich den Wassertaxis, seit die Kreuzfahrtschiffe nicht mehr Venedig ansteuern. Die letzte Sichtung eines Delphins liegt auch schon wieder eine Weile zurück, vermutlich hatte sich das Tier nur in die Bucht verirrt. Aber in den Wochen nach dem Lockdown war die Rückkehr der Meeresfauna plötzlich ein Symbol der Hoffnung auf eine Rückkehr in eine Zeit vor der sogenannten Normalität.
Man hat nicht nur in Venedig fast schon vergessen, wie das früher mal war. Die Krise lehrt Demut. Und dann steht man nach einer stürmischen Überfahrt wieder auf dem Lido. Der letzte Besuch liegt ein Jahr zurück, eine gefühlte Ewigkeit also. Wie müssen sich da die Einheimischen erst fühlen, jetzt, wo die Insel wieder für knapp zwei Wochen im Zeichen der Filmfestspiele steht? Normal ist in diesem Jahr jedenfalls nichts.
„Die Wellen sind nicht mehr da“, erzählt die Gondoliere Elena in Andrea Segres Dokumentarfilm „Molecole“. Sie hätte sich irgendwann an den Wellengang gewöhnt, aber wo die Stadt nun im Corona-Tiefschlaf liegt, merke sie erst, dass die Wellen von den vielen Schiffen in der Lagune verursacht wurden. Die Ruhe lässt die Stadt in einem neuen Licht erscheinen. Gleichzeitig erinnern die fehlenden Touristen wieder daran, dass Venedig schon länger eine sterbende Stadt ist. Auf dem leeren Markusplatz singt eine Frau ein Lied in deutscher Sprache. Wenigstens die Fischer kommen wieder mit vollen Netzen vom Meer zurück.
Mehr als ein Corona-Tagebuch
Den sehr persönlich gefärbten „Molecole“ an den Beginn der 77. Filmfestspiele von Venedig zu setzen, am Vorabend vor der Gala-Eröffnung, ist eine besondere Geste von Festivalleiter Alberto Barbera. Der in Rom lebende Segre arbeitete gerade an einem Film über seinen verstorbenen Vater, einen geborenen Venezianer, als die Stadt den Lockdown verordnete. Er wollte Venedig durch die Augen des Vaters sehen, die Umstände zwangen ihm dann eine neue Perspektive auf.
„Molecole“ ist darum auch mehr als ein Corona-Tagebuch. Segre spielt mit verschiedenen Texturen, Super8-Aufnahmen seines Vaters, alten Fotografien, Gesprächen, Teho Teardos dräuendem Score. So wird der Film zu einer melancholischen Liebeserklärung an den schweigsamen Vater – und an Venedig, das innerhalb eines Jahres zwei Naturkatastrophen durchlebte. Man hat das ja fast schon wieder vergessen: Die Stadt hatte sich kaum von der Jahrhundertflut im November erholt, als die Pandemie ausbrach.
Einen Venedig-Film an den Anfang des Festivals zu setzen, ist ebenfalls ein Zeichen der Demut. Der Lido wird in diesen zwei Wochen gewöhnlich zum Tummelplatz des internationalen Film-Jet-Sets; ein paar Tage zeitversetzt startet das Festival in Toronto, dann zieht der Troß weiter. Mit der Programmierung von „Molecole“ würdigt Barbera die Stadt, die oft genug als fotogene Kulisse für PR-Auftritte von Stars herhalten muss. Trotz des globalen Hypes nicht den Kontakt zur lokalen Kultur aus den Augen zu verlieren, war ein Bekenntnis, das in den Monaten nach dem Corona-Lockdown von Leiterinnen und Leitern großer Festivals zu hören war. Barbera setzt dies konsequent um.
Das Festival findet ausschließlich physisch statt
Die 77. Ausgabe der „Mostra internazionale d’arte cinematografica“ ist kein Kino/Online-Hybrid wie die Festivals in Toronto und San Sebastian. Es findet ausschließlich physisch statt, als Signal an die internationale Filmbranche. Da steckt natürlich ganz schön viel Symbolkraft für so ein Filmfestival drin. Auch darum bekommt Barbera bei der Eröffnungsgala Unterstützung, unter anderem von Berlinale-Leiter Carlo Chatrian, Thierry Fremaux (Cannes), Lili Hinstin (Locarno) und José Luis Rebordinos (San Sebastian). Bevor das Festival mit Daniele Luchettis Ehedrama „Lacci“ offiziell losgeht, bestärken sie in ihren Reden noch mal die Bedeutung von Festivals für jede neue Generation von Filmschaffenden – sowie als Orte des Austauschs und der Vermittlung.
Solch eine Solidarität unter Festivalleitern ist nicht unbedingt selbstverständlich, aber sie lässt erkennen, welche Rolle Venedig in diesem Jahr zukommt. Nicht als Startrampe in die Oscarsaison (auch die Awards sind in den April verschoben), sondern schlicht als Überlebenssignal. Das erste physische Festival nach dem Lockdown.
Aber die Pandemie hat das Gesicht der Mostra verändert. Die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der man sich sonst über den Lido bewegt, ist dahin, wenn plötzlich alle – gemäß den Auflagen – Masken vor Mund und Nase tragen. Vor den Kinos stehen Kontrolleure mit Temperaturscannern. Und der rote Teppich ist durch einen Sichtschutz verstellt, damit die wenigen anwesenden Stars wie Jury-Präsidentin Cate Blanchett, Matt Dillon, Tilda Swinton oder Ludivine Sagnier keine Menschenmengen vor den Palazzo del Cinema locken. Es ist bizarr.
Dass das Festival 2020 unter veränderten Voraussetzungen stattfindet, zeigt auch ein Blick in den Wettbewerb. Im Vorjahr gewann zum allgemeinen Erstaunen der Superheldenfilm „Joker“ den Goldenen Löwen. In diesem Jahr ist die einzige US–Studio-Produktion das Roadmovie „Nomadland“ von Chloé Zhao – eine von acht Regisseurinnen, die um den Hauptpreis konkurrieren. Im traditionell äußerst quotenschwachen Venedig-Wettbewerb ist das ein Rekord. Oder vielleicht doch nur ein weiteres Zeichen der Krise? Jetzt müssen also die Frauen ran.
Häme ist jedoch nicht angebracht. Barbera hat unter widrigen Umständen einen beachtlichen Wettbewerb zusammengestellt. Besonders gespannt darf man auf Mona Fastvolds historisches Drama „The World To Come“ mit Katherine Waterston, Vanessa Kirby und Casey Affleck sein. Zu der norwegischen Regisseurin gesellen sich Malgorzata Szumowska und die „Bären“-Gewinnerin Jasmila Žbanic („Esmas Geheimnis“) mit neuen Filmen sowie Julia von Heinz, die mit dem Antifa-Drama „Und morgen die ganze Welt“ gute Aussichten hat, am Ende sogar als große Überraschung aus diesem Venedig-Jahrgang hervorzugehen.
Festivalroutiniers wie Andrei Kontschalowski, Amos Gitai, Kiyoshi Kurosawa und Gianfranco Rosi, der 2016 mit seinem Flüchtlings-Dokumentarfilm „Seefeuer“ den Goldenen Bären gewann, runden einen Wettbewerb ab, der von übermäßigem Festival-Buzz verschont bleiben dürfte – und damit vergessene Venedig-Tugenden wiederbeleben könnte: die Pflege des Arthouse-Kinos, das in den vergangenen Jahren unter der Leitung Barberas etwas ins Hintertreffen geraten war.
In diesem Jahr ist der Start verheißungsvoll
Damit ist die Bahn frei für Luchettis Bestsellerverfilmung um ein Ehepaar im Neapel der achtziger Jahre, das sich in einen emotionalen Rosenkrieg verstrickt, der bis in die Gegenwart reicht. Alba Rohrwacher und Luigi Lo Cascio brechen auf immer wieder verblüffende Weise aus ihren Rollenmustern aus; nichts ist, wie es scheint, was das Bergmansche Beziehungsdrama stellenweise in die Nähe des Mystery-Thrillers rückt.
Dass Rohrwacher und Cascio (gerade in „Der Verräter“ im Kino zu sehen) auch jeden roten Teppich zieren, ist zweifellos ein weiteres gutes Argument für „Lacci“ als Eröffnungsfilm, der sich in Venedig zuletzt allzu oft als Konzession entpuppt hat. In diesem Jahr ist der Start verheißungsvoll.