Filmfestival Venedig: Stille Wasser am Lido
Das Filmfestival Venedig findet Anfang September tatsächlich in physischer Form statt. Doch es wird anders als in den Vorjahren aussehen.
Der Lido ist Synonym für das Filmfestival von Venedig, ähnlich wie die Flaniermeile Croisette für Cannes. Die elf Kilometer lange Landzunge vor Venedig, mit dem dank Thomas Mann weltberühmten Grand Hotel des Bains und dem von Mussolini gestifteten Palazzo Del Casinò, machen das einzigartige Flair des Festivals aus, das an zwölf Tagen im September die Seitenstraßen und Zweigkanäle auf der Insel mit Leben füllt.
Noch aber kann niemand sagen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die diesjährige Ausgabe hat.
Einerseits wird das Festival durch zwei zusätzliche Freiluftkinos eine noch stärkere Präsenz im Straßenbild erhalten, andererseits sorgt die allgemeine Unsicherheit dafür, dass vermutlich weniger Branchenleute als in den Vorjahren an den Lido reisen. Die Abstandsregeln werden das soziale Gewebe des Festivalbetriebs beeinträchtigen.
Nach der Ankündigung von Ministerpräsident Conte am Mittwoch, den Notstand in Italien bis Oktober verlängern zu wollen, teilen nicht alle den Optimismus von Festivalleiter Alberto Barbera, dass die „Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica“ am 2. September überhaupt, in welcher Form auch immer, über die Bühne geht.
Nur eine Hollywood-Produktion im Wettbewerb
Wenn es erste Anzeichen dafür gibt, dass die 77. Filmfestspiele von Venedig unter veränderten Bedingungen stattfinden, dann hat die Präsentation des Programms am Dienstag einige Befürchtungen zur Gewissheit gemacht. Unter Barbera hat das Festival zuletzt eine strategische Partnerschaft geschlossen und den Fokus vom avancierten Arthousekinos (mehr denn je die Domäne von Cannes und Berlin) auf die mittelgroßen Hollywood-Produktionen jenseits der Franchises gelegt.
Die Rechnung ging auf. Der Lido war für jedes Studio, das seine Filme für die Oscars positionieren oder seine Stars auch nur mal so öffentlichkeitswirksam durch die Lagune gondeln lassen wollte, die erste Adresse.
In diesem Jahr gibt es mit der Searchlight-Produktion „Nomadland“ der chinesischen Regisseurin Chloé Zhao (zuletzt 2017 mit dem Rodeodrama „The Rider“ in Cannes) nur einen Studiofilm im Wettbewerb. Es mag am eingeschränkten Angebot liegen, nachdem der Filmbetrieb seit Monaten stillsteht, könnte aber auch eine Reaktion auf die Verschiebung der Oscar-Verleihung 2021 auf Ende April sein.
Corona hat den Terminkalender der Filmbranche weltweit durcheinander gebracht, das bekommt auch Venedig zu spüren. Die letzten großen Hollywoodfilme stammen aus dem Februar und nach dem Geschiebe um „Tenet“ dürfte so bald auch kein Nachschub zu erwarten sein.
Eine gute Chance für das Arthousekino
Für Venedig könnte sich das als Chance erweisen (eine überstrapazierte Corona-Binse), sich aus der Abhängigkeit von den Studios – und Netflix, die den Lido zuletzt als dankbare Werbeplattform benutzt haben – zu lösen. Unter Barberas Vorgänger Marco Müller hatte Venedig als Festival, das das Kommerz- mit dem Kunstkino versöhnt, Cannes ernsthaft Konkurrenz gemacht.
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In den vergangenen Jahren stellten sich dagegen schon nach dem ersten Hype-Wochenende (und dem Aufbruch der Branche in Richtung Toronto) leichte Ermüdungserscheinungen ein.
2020 ist eine (erzwungene) Abkehr vom Gerangel um prominente Namen wie Brad Pitt, Lady Gaga und Ryan Gosling und Oscar-Hypes. Die Amerikaner werden sich mehr denn je auf Toronto konzentrieren – gut für das Arthousekino. Allerdings überrascht doch, das nach der Absage von Cannes auch in Venedig die ganz großen Namen fehlen. Zufall oder schon eine Warnung, was dem Kino nach Corona blühen könnte?
Acht Regisseurinnen sind ein Venedig-Rekord
Venedig ist in diesem Jahr, mit vielen unerwarteten Namen im Wettbewerb wie der Norwegerin Mona Fastvold, Hilal Baydarov aus Aserbaidschan und der deutschen Regisseurin Julia Von Heinz („Ich bin dann mal weg“), zumindest für Überraschungen gut. Nicht die offensichtliche erste Wahl, aber gerade deswegen könnte es einiges zu entdecken geben – eine Hoffnung, mit der man zuletzt selten an den Lido gereist war.
Es ist ein außergewöhnliches Jahr auch für die Frauen, die sich einmal mehr als Retterinnen aus der Krise behaupten müssen. Typisch nicht nur fürs Kino. Acht Regisseurinnen machen fast 50 Prozent der Wettbewerbstitel aus. Barbera war nie ein Fan der Quote, in diesem Jahr retten ihm die Frauen aber den Hals. Man darf hoffen, dass er sich nach Corona erkenntlich zeigt.
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