Big Data in China: Kaufen, chatten, gehorchen
Staatsbürgerliches Verhalten als Computerspiel: Die Kommunikationswissenschaftlerin Min Jiang über Chinas Big-Data-Pläne und das Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft im Internet.
Min Jiang, geboren und aufgewachsen in China, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem chinesischen Internet und seinen politischen Aspekten. Sie ist Professorin für Kommunikationswissenschaft an der University of North Carolina in Charlotte und Forschungsmitglied des Global Center of Communication Studies der University of Pennsylvania. Vor ihrer Promotion arbeitete sie unter anderem für den staatlichen chinesischen Fernsehsender CCTV. Im Januar war sie bei einem Workshop der Freien Universität Berlin zur digitalen Transformation Chinas zu Gast. Sie hielt dort einen Vortrag über Big Data und politische Kontrolle.
Mrs. Jiang, Big Data wirft drei große Fragen auf. Diejenige nach der Deutungsbedürftigkeit der Daten selbst. Die nach den wirtschaftlichen Hoffnungen, die sich daran knüpfen. Und die nach der Überwachung jeder menschlichen Regung, die dadurch möglich wird. Welcher von diesen drei Aspekten bewegt die chinesische Regierung am meisten?
Aus Sicht der Zentralregierung ist die Frage nach der Deutung von Big Data wohl die geringste. China nimmt heute eine Schlüsselstellung in Bereichen wie Supercomputing und Künstlicher Intelligenz ein. Wichtiger dürfte ihr der Profit sein. Seit den Reformen Ende der siebziger Jahre ist Wirtschaftswachstum ihre ultimative Raison d’être. Das hat sie vor allem durch die Regulierung der Netzunternehmen erreicht. Dadurch, dass es nur noch einige nationale Größen wie die Suchmaschine Baidu sowie die riesigen IT-Holdings Alibaba und Tencent gibt, ist dies sehr viel einfacher geworden. Entstanden ist eine Symbiose von Privatwirtschaft und Staat.
Warum geht das auch westliche Länder etwas an?
Um den Big-Brother-Aspekt sollte sich jede Nation sorgen, deren Regierung Informationstechnologie einsetzt. Die Snowden-Affäre hat das Ungleichgewicht von Privatsphäre und Sicherheit vorgeführt. Die Chinesen haben es allerdings insofern besonders schwer, als ihnen der schwache Rechtsstaat nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen, gegen mögliche Massenüberwachung anzugehen.
Ein zentrales Element der Big-Data-Strategie ist ein Sozialkreditsystem, das bis zum Jahr 2020 landesweit verpflichtend eingeführt werden soll. Derzeit werden Pilotprojekte getestet, eines davon, eine offizielle soziologische Studie, in Rongcheng, einer kleinen Stadt in der Provinz Shandong, ein anderes von Jack Mas Firma Alibaba unter dem Namen Sesame Credit. Bisher weiß niemand so recht, worauf das alles hinausläuft. Aber handelt es sich nicht in jedem Fall um ein einzigartiges Experiment in der Geschichte der Menschheit?
Ob man dieses System für einzigartig hält, hat sehr viel damit zu tun, wie man es beschreibt. Zurzeit scheint es nicht ein einziges, zentralisiertes Sozialkreditsystem zu geben. Es ist wohl eher so, dass Regierung und private Unternehmen vielfältige Projekte unter der gemeinsamen Bezeichnung Sozialkreditsystem entwickelt haben. Während sich die mediale Aufmerksamkeit auf die staatliche Überwachung von Bürgern gerichtet hat, gibt es auch Versuche mit anderen Schwerpunkten. Zu alledem kommt, dass ungefähr die Hälfte der chinesischen Bevölkerung noch gar nicht online ist.
Worauf muss man sich also einstellen?
Die genauen Umrisse des Sozialkreditsystems bleiben erst einmal ungewiss, obwohl ein Bericht von der sechsten Plenarsitzung des Zentralkomitees der KP schon 2011 skizzierte, dass sich ein solches Punktesystem auf den Online-Handel erstrecken könnte, auf die Bereitschaft zu staatsbürgerlichem Engagement, auf das Vorstrafenregister oder das Verhalten in sozialen Netzwerken. Eine bittere Lektion, die uns das chinesische Internet erteilt hat, besteht bekanntlich darin, dass dem Netz an sich keine befreienden Kräfte innewohnen.
Von welchen Initiativen wissen Sie derzeit?
Momentan haben offenbar 43 Städte und Stadtdistrikte die Erlaubnis für Pilotprojekte. Dazu kommen acht private Unternehmen mit eigenen Systemen und Algorithmen. Die Punkte könnten sich auf viele Bereiche des Lebens auswirken: auf die Buchung eines Hotels, die Reisefreiheit, auf Versicherungsprämien oder die Schulzulassung, auf Beamtenjobs, den Zugang zu Sozialleistungen oder sogar dem Internet selbst.
Von Bonuspunkten beim Einkaufen bis zum Schufa-Eintrag kennen auch die Deutschen einiges.
Ja, man kann mit gutem Grund behaupten, dass das Sammeln und Aggregieren von Daten auch anderswo verbreitet ist. In den USA sind es staatliche Einrichtungen wie die NSA, aber auch Google, Facebook oder der Marketing-Gigant Acxiom. Chinas Sozialkreditsystem wirkt in diesem Zusammenhang nur wie eine pervertierte Form dessen, was längst tagtäglich geschieht. Allerdings handelt es sich eben um eine Initiative der Regierung, die in ihrer Gestaltlosigkeit immer weitere Kreise zieht. Ob auch kommerzielle Daten in die nationale Plattform einfließen werden, lässt sich aber noch nicht sagen. Jedenfalls überschreitet das System die bekannten finanziellen Ratingsysteme dadurch, dass sie auch konsequent für soziale und politische Zwecke eingesetzt werden können.
Darin liegt ein dystopisches Element, wie es die Fernsehserie „Black Mirror“ immer wieder im Bereich der bloßen Fiktion erkundet.
Die Vergleichbarkeit mit „Black Mirror“ kommt nicht zuletzt aus dem umfassenden Anspruch des Sozialkreditsystems, während es zugleich unfassbar bleibt. Jedenfalls wird das Risiko, dass sich die Dinge in Richtung einer Dystopie entwickeln, umso höher, je ambitionierter sie ausgestaltet werden. Ausländische Journalisten haben sogar schon Fälle ausgegraben, in denen das Sozialkreditsystem schon in seiner Erprobungsphase zum Nachteil geriet.
Kennen Sie Beispiele?
2013 wurde der Journalist Liu Hu wegen „Herstellung und Verbreitung von Gerüchten“ festgenommen. Neben einer Geldbuße erlegte ihm der Staat auch Restriktionen im Hinblick auf den Erwerb von Eigentum, seine Kreditwürdigkeit und den Zugang Hochgeschwindigkeitszügen auf. Ein anderer bizarrer Fall hat mit einem Mädchen namens Song Zixuan zu tun. Sie war zwei Jahre alt, als der Vater ihre Mutter ermordete und zum Tode verurteilt wurde. Als sie später die zusätzliche Geldstrafe nicht zahlen konnte, geriet sie auf eine schwarze Liste.
Das klingt tatsächlich gespenstisch.
Und es wirft viele Fragen auf: Worauf beruht ein gerechtes System von Belohnung und Strafe? Wer entwickelt die Algorithmen? Mit welchen Mechanismen reagiert man auf Missbrauch und Beschwerden? Kann ein solches Reputationssystem wie jede andere Website gehackt werden? Wer bestimmt darüber, in welche Richtung es entwickelt wird? Wer steht außerhalb dieses Systems?
Staatsbürgerliches Verhalten als Computerspiel
Das Schlagwort, das im Zusammenhang mit dem Sozialkreditsystem oft genannt wird, lautet „gamification of social control“ oder „gamified obedience“. Es heißt nichts anderes, als dass staatsbürgerliches Verhalten in die Nähe eines Computerspiels gerät.
Soweit ich weiß, tauchte das Wort von der „gamified obedience“ zum ersten Mal 2015 in einem Bericht des britischen „Independent“ auf, in dem sich Samuel Osborne dem Sesame Credit von Alibaba widmete. Später griff dieses Gehorsam als Spiel dann Rachel Botsman in ihrem Buch „Who Can You Trust?“ auf.
Sind die meisten Chinesen überhaupt willens, Spiel und Ernst an diesem Punkt auseinanderzuhalten?
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie es können. Ich nehme an, dass einige das System, seine Hintertürchen und Konsequenzen kritisch begleiten werden. Andere werden es aber auch unterstützen, weil es den Bösewichten an den Kragen geht und Chinas „Vertrauensverlust“ ausgleichen hilft, den es durch die massenhafte Fälschung von Markenware erlitten hat. Und vielleicht unterstützen es manche, weil sie hoffen, dass sich die Korruptionsanfälligkeit von Unternehmern und Staatsdienern verringert.
Hat der Mangel an Widerstand auch damit zu tun, dass die bisherigen Erfahrungen vor allem im privaten Sektor stattgefunden haben?
Das kann gut sein. Alibabas Sesame Credit zum Beispiel beruht auf AliPay, einer App, mit der Chinesen alles vom Taxi über Eintrittskarten bis zum Restaurant bezahlen. Sogar Überweisungen zwischen Freunden und Familienmitgliedern werden damit durchgeführt. Produktmanager von Alibaba haben durchblicken lassen, dass Sesame Credit auch die allgemeinen Vorlieben seiner Nutzer bewertet, welche Produkte sie kaufen, wie viele Stunden sie mit Computerspielen verbringen, welchen Familienstand sie haben. Gesammelt werden Informationen über Online-Freunde und den Inhalt von Postings. Da betrachten manche User ihren persönlichen Sesame Credit als Statussymbol, das es ihnen gestattet, höheren Kredit aufzunehmen, schneller in Hotels einzuchecken oder ein attraktiveres Profil auf Baihe, Chinas größter Dating-Website, anzulegen.
Ein entscheidender Einwand gegen das Sozialkreditsystem besteht darin, dass es nach technologischen Lösungen sucht, wo soziale Antworten gefragt sind.
Ich entdecke diesen Technozentrismus bei vielen Big-Data-Projekten. Sie alle hoffen, komplexe soziale Probleme in vermeintlich handhabbare Teile aufzusplitten, für die es genau berechenbare Lösungen gibt. Diese Herangehensweise legt nahe, dass sich die komplexe Entwicklungsdynamik einer Stadt oder auch gesellschaftliche Unzufriedenheit beherrschen lassen, wenn man nur über ausreichende Datenmengen verfügt.
Sie haben für Chinas Weg ins digitale Zeitalter schon den Begriff des technologischen Nationalismus verwendet. Was meinen Sie damit?
Für mich ist Big Data die letzte Stufe der staatlichen Informatisierungsstrategie. Der seit den 80er Jahren geläufige Begriff Modernisierung mag einiges von seiner Stärke und Aura verloren haben. Doch während wir Zeuge großer geopolitischer Verschiebungen werden, zu denen auch der Aufstieg Chinas gegenüber dem relativen Abstieg Amerikas gehört, dient er dem chinesischen Staat nach wie vor dazu, seine Rückkehr auf die Weltbühne zu suchen.
Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.
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