Frank Schirrmachers „Ego – Das Spiel des Lebens“.: Wir sind die Roboter
Im Kraftwerk der Algorithmen: Frank Schirrmachers Kampfschrift „Ego – Das Spiel des Lebens“.
Zwischen Wissenschaft und Science- Fiction verläuft ein schmaler Grat. Was Tatsachen sind und was hilfreiche Annahmen, welche Ergebnisse sich mathematisch darstellen lassen und welche erzählt werden müssen, auch wo Gedankenexperimente der Empirie auf die Sprünge helfen – dies beschäftigt nicht nur die Physik. Die Konstruktion von Modellen gehört zur Geschäftsgrundlage aller Disziplinen, und manche dieser Modelle lassen sich sogar für andere Fächer nutzbar machen.
Der Exportschlager der Wirtschaftswissenschaften ist der homo oeconomicus. Als sogenannte heuristische Fiktion bevölkert er auch Soziologie und Psychologie. Ein theoretischer Pappkamerad, dessen als durch und durch rational postuliertes, auf die reine Mehrung des Eigennutzes gerichtetes Verhalten Analyse wie Prognose von Verhalten in gesellschaftlichem Maßstab gestatten soll. In seinem Mangel an Altruismus ist er kein braver Bürger, geschweige denn ein guter Christ, doch soll er ja gerade keine Gestalt aus Fleisch und Blut sein, sondern ein homunculus oeconomicus, wie ihn der Nationalökonom Fritz Machlup lieber getauft haben wollte.
Was nur, wenn dieser formelhafte Kerl wider Erwarten Gestalt angenommen haben sollte? Wenn er wie der Prager Golem auf seine tönernen Füße gekommen wäre und in Heerscharen durch die Welt ziehen würde, darauf bedacht, den Menschen zu verdrängen? In Frank Schirrmachers Buch „Ego – Das Spiel des Lebens“ heißt dieser Golem Nummer 2. Er ist der Agent eines „ökonomischen Imperialismus“, der Denken, Fühlen und Handeln von Nummer 1, dem homo sapiens, kolonisiert hat. Ein softwaregeneriertes „Monster“, das jede Moralität verschlingt. Ein Mr. Hyde, der dabei ist, ganz den Platz von Dr. Jekyll einzunehmen: „Der Kalte Krieg ist zurückgekehrt, aber in Gestalt eines Kalten Krieges, den sich die Gesellschaft selbst erklärt hat.“
„Im Informationskapitalismus“, behauptet Schirrmacher, „wird der Mensch zur Summe seiner Algorithmen.“ Er sieht „neoklassische Ökonomie, Darwinismus und Computertechnologie zu einer neuen Supertheorie verschmelzen“, die jeden in einer unentrinnbaren Matrix einschließt und „das Erbgut des synthetischen homo oeconomicus in alle nur denkbaren Systeme einschleust – vom einzelnen Menschen bis zu globalen Ökonomien“. Voraussetzung dafür, immer mehr „endemisch selbsterfüllende Prophezeiungen zu produzieren“. Das Deskriptive hat sich zum Präskriptiven erhoben.
Die Fantasien, die Schirrmacher bedient, sind archaisch. Es gibt für sie aber sehr wohl theoretische Grundlagen. Solche, auf die er in schwindelerregender Zahl zurückgreift – das überwiegend Kindle Editions nennende Literaturverzeichnis ist mit 34 Seiten doppelt so lang wie der Anmerkungsapparat. Und solche, die er stillschweigend beerbt. Denn der neue Totalitarismus, den er mal heraufziehend, mal in vollem Schwange wähnt, hat Vorläufer in Konzepten wie der „technologischen Singularität“, die der Mathematiker und SF-Romancier Vernor Vinge in einem berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1993 formulierte. Damit verbindet sich unter anderem die Vorstellung, dass auch zunächst schwächere Formen künstlicher Intelligenz in einem Jenseits des menschlichen Horizonts irgendwann zu einer Art Bewusstsein erwachen könnten – eine Idee von Emergenz, bei der das Ganze am Ende mehr als die Summer seiner Teile ist.
Die prominenteste apokalyptische Wendung des Singularitätskonzepts formulierte zur Jahrtausendwende Bill Joy im Magazin „Wired“. Unter dem Titel „Warum die Zukunft uns nicht braucht“ machte der in Schirrmachers „FAZ“ nachgedruckte Aufsatz auch in Deutschland Furore. „Ego“ setzt diesen Kampf zwischen Mensch und Maschine, überfordertem Einzelbewusstsein und Informationstechnologie, der schon den Vorläufer „Payback“ auszeichnete, nun an der Stelle fort, wo er zuletzt mit den fatalsten Konseqenzen tobte: auf den Finanzmärkten und ihren automatisierten Börsen.
Schirrmacher selbst zeichnet die kulturhistorische Genese am Beispiel einer in ihren Antizipationsstrategien hoffnungslos entgrenzten Rational-Choice- und Spieltheorie nach, die aus den Szenarien der atomaren Bedrohung in die Merkantilisierung jedes Verhaltens eingewandert ist und auch die Bereiche des Sozialen und des Politischen im Griff hat.
Das ist über weite Strecken klug und packend, wenngleich von einer Wiederholungsfrequenz, die schreiberischer Sorglosigkeit wie einem Einhämmerungsgestus geschuldet sein mag – und eingepasst ist in eine narrativ bis zur Absurdität festgezurrte Abfolge des Schon, Dann und Worauf. Das Auffälligste aber ist, dass der Geisteswissenschaftler Schirrmacher die Debatte fast ausschließlich mithilfe von Finanzwissenschaftlern, Informatik-Geeks und Techno-Futuristen führt.
Das Michel Foucault entlehnte Motto „Wir sollten nicht zu entdecken versuchen, wer wir sind, sondern was wir uns weigern zu sein“ bildet da fast einen Fremdkörper. Dabei könnte man „Ego“ problemlos in eine kapitalismuskritische Tradition stellen, die mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ einen alles verdinglichenden „Verblendungszusammenhang“ am Werk sah oder, in den Wunschmaschinen des „Anti-Ödipus“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari, dem Zusammenhang von „Kapitalismus und Schizophrenie“ nachging.
Dass „Ego“ eine Informationsökonomie anklagt, gegen die kein klassenkämpferisches Kraut gewachsen ist, weil das unternehmerische Selbst sich im Zweifel ganz allein ausbeutet, ist in der Entschiedenheit, mit der Schirrmacher es festhält, vielleicht neu. Dass auch in der Turbowissensepoche soziale Ungleichheiten auf allen Ebenen nicht verschwinden, sondern sich womöglich noch verstärken, macht es aber schwer, seinen antikapitalistischen Furor völlig von klassischen linken Impulsen zu entkoppeln – abgesehen davon, dass natürlich auch ein rechter Antikapitalismus existiert.
Es ist deshalb kein Wunder, dass Schirrmacher auf den letzten Seiten keine überzeugenden Auswege andeuten kann. Der Einzelne, an dessen „Selbstaufklärung“ er appelliert, steht bei ihm unter Verdacht, eine Marionette zu sein. Die Politik, die großindustrielles Data Mining kontrollieren könnte, hat sich im Referendumsmodus abgeschafft. Und wer oder was das Movens der unheimlichen Prozesse ist, tendiert zu einer ominösen geschichtsphilosophischen Notwendigkeit, deren Plausibilität sich aus einer gewissen Metaphernseligkeit ergibt. Der elektrische Funke springt von Galvanis Froschschenkeln über zu Mary Shelleys Frankenstein und nistet sich schließlich im Inneren des durchdigitalisierten Menschen ein.
„Ego“ ist von daher gespalten zwischen intellektueller Ambition und Persuasion. Das eine lässt sich nicht ohne das andere verstehen. Denn Schirrmacher versucht, etwas zu denken, das sich eigentlich gar nicht denken lässt: den Übertritt des Menschen aus seinem gewohnten Selbstverständnis in eine transhumanistische Sphäre. Wer aber, wenn nicht ein Mensch, sollte darüber befinden, dass sich seiner ein algorithmisches Modell bemächtigt habe, das „Aussagen über die Identität und die Individualität des homo sapiens trifft, die im Zeitalter des Digitalen diese mit Auslöschung bedrohen“? Und an welcher Stelle sollte sich der Bruch ereignen, der ihn zu etwas fundamental Anderem macht?
Es gibt, bei allem historischen Wandel, nur ein Kontinuum der Einstellungen und Werte. Deshalb ist dieses Buch, das trotz seiner Furcht vor der Mutation der eigenen Art zu digitalen Zombies in trauter humanistischer Eintracht an ein „Wir“ von Autor und Publikum appelliert und sich ohne Scheu an „Sie, lieber Leser“ wendet, ein kulturkritisches Pamphlet im besten Sinne: Diagnose, Prophezeiung und Exorzismus eines technologisch heraufbeschworenen Egoismus gleichermaßen. Damit kann man umgehen – notfalls auch ohne politische Folgerungen daraus zu ziehen.
Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. Blessing Verlag, München 2013. 352 Seiten, 19,99 €.
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