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Baustelle. Die Kathedrale Notre-Dame in Paris.
© AFP/Stephane de Sakutin

Nach dem Brand von Notre-Dame: Die Narbe von Paris

Der Anblick der halbierten Kathedrale ist surreal, trotzdem geht das Leben in der französischen Hauptstadt weiter. Ein Eindruck aus Paris.

Schon aus der Ferne, mit dem Fahrrad aus der Rue Beaubourg kommend, sieht man, dass etwas nicht in Ordnung ist. Zwei dürre, turmhohe Kräne greifen wie spitze Finger nach der Kathedrale. Immerhin, das Gerücht weitläufiger Absperrungen entpuppt sich als übertrieben. Man kann fast bis an den Vorplatz heran, dann aber ist Schluss.

Polizisten mit schweren Waffen versperren den Weg, Kreissägen, Motorenrattern: Der menschliche Lärm, der hier sonst immer herrschte, ist durch maschinellen ersetzt worden. Eine meterhohe Spundwand zieht sich einmal vollständig um die Kirche, immerhin versucht ihr lichtes Beige das der Fassade zu imitieren, die so hell und sauber strahlt, als sei sie gerade geputzt worden. Was ja auch stimmt – und den Brand nur umso tragischer macht. Die Straßenlaternen sind nur noch Stummel, abgeschnitten einen Meter über Grund. Trotzdem: Notre- Dame wirkt surreal intakt, nur eben quasi halbiert. Ein riesiges Gerüst erhebt sich jetzt dort, wo das Dach war, dessen Form eines umgedrehten V im Gerüst ausgespart ist und für alle sichtbar eine Absenz markiert. Netze und Plastikplanen dominieren das Antlitz des Gebäudes, die Fensterrahmen sind mit gigantischem Tesakrepp abgeklebt. Man könnte glauben, diese Kathedrale wird gerade neu gebaut.

Natürlich, Notre-Dame ist nicht die bedeutendste Kirche Frankreichs. In Saint- Denis wurde die Gotik geboren, in Reims die Könige gekrönt, und die plötzlichen Millionenzusagen milliardenschwerer Spender kann man angesichts der Not der Vorstädte und protestierender Gelbwesten durchaus als Stinkefinger gegenüber den Armen begreifen. Trotzdem ist nicht nur im stummen, ungläubigen Blick der Umstehenden zu spüren, dass der Brand gerade dieser Kathedrale viele Menschen getroffen hat. Vielleicht liegt es daran, dass wir sie alle kennen, sie liegt nicht irgendwo in der Champagne, sondern im Zentrum von Paris und bot Unzähligen die Möglichkeit, sich wenigstens für einen Augenblick von einer fernen Epoche anfassen zu lassen, in der andere Wahrheiten und Gewissheiten galten. Am schönsten war es, wenn Messe war und jemand sang, am besten ein Sopran. Die Töne versuppten nicht im Gewölbe, sondern waren von mysteriöser Klarheit und vermittelten, nur für eine Sekunde, die Ahnung, wie vielleicht die Stimme Gottes klingen könnte.

Man kann nicht hinein, logisch. Kann sich nur vorstellen, wie die 800 Jahre alten Holzbalken verschmort auf dem zertrümmerten Steinboden liegen. Das Hauptportal, das Jüngste Gericht, die Teufel, die die Sünder nach rechts abführen: alles nicht mehr zugänglich, wohl für lange Zeit. Die Spundwand sperrt einen, wie sich zeigt, dann doch recht großen Bereich ab, ein enormes Verkehrshindernis. Was auch schmerzt: sogar den von beiden Seine-Armen eingefassten Garten hinter Notre- Dame, vielleicht einer der schönsten Orte der Stadt und viel weniger kitschbeladen als die Spitze der Île de la Cité, hat die Wand verschluckt. Aber: Dies ist Paris. Fünf Meter von der Kirchenmauer entfernt haben die Cafés geöffnet, und wo mehr als zwei Menschen zusammenstehen, tritt ein Künstler auf. Ein junger Typ spielt Pachelbels Kanon auf der E-Gitarre, die Bouquinisten bieten ihre Ware im Schatten der Kastanien an, die jetzt im Mai schon größtenteils verblüht sind. Das Leben geht weiter. Smartphones scannen die verwundete Fassade, es klickt sekündlich. Tourismus absorbiert alles. Die zerstörte Notre-Dame ist selbst schon wieder eine Attraktion.

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