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Zweimal Notre Dame im Blick.
© STEPHANE DE SAKUTIN / AFP

Brand in Notre-Dame: Die falsche Sehnsucht nach Beständigkeit

Wie Victor Hugo, Autor von "Der Glöckner von Notre-Dame", die Trauer der Menschen über den Brand der Kathedrale erklären würde. Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Der Brand der Kathedrale Notre-Dame hat die Menschen berührt. Dafür gibt es viele Erklärungen: Notre-Dame ist das Wahrzeichen der Stadt, Ort der französischen Geschichte und Teil des Alltags vieler Pariser. Touristen wie Franzosen verbinden damit Erinnerungen an Erhabenheitsgefühle, vielleicht auch Freiheit: Damals, das erste Mal in Paris.

Das Verlangen nach Beständigkeit ist tief im Charakter der Menschen verwurzelt, denn Beständigkeit bedeutet Ruhe und Frieden - das, was sich die meisten Menschen erhoffen.

schreibt NutzerIn macthepirat

In der Trauer um Notre-Dame spiegelt sich aber womöglich auch das Hadern mit der ewigen Veränderung, mit dem Progressiven. Der Brand am Montag wirft die Frage auf: Wie ewig ist die Kunst? Wie haltbar die Welt? Notre-Dame wirkte wie ein Gegenbild zum Fortschritt. Die monumentale Kathedrale, umspült vom Fluss, ist ein beinahe kitschiges Sinnbild für Beständigkeit. Ist das zu einfach, zu theaterhaft, um wirklich etwas zu erklären? Zumindest regte Notre-Dame offenbar schon immer Menschen zu ähnlichen Empfindungen an. Zum Beispiel Victor Hugo. Es lohnt sich, das noch einmal nachzulesen. Hugo fasst das, was wohl viele in dieser Woche empfunden haben, in seine mächtige Sprache und lässt es so klarer erscheinen – ich bin eher zufällig darauf gestoßen, als ich am Dienstag nach der Brandnacht in einem nostalgischen Reflex meine Ausgabe des „Glöckner von Notre-Dame“ aus dem Bücherregal gesucht habe.

Die Haltung der Kirche zur Welt war aus Hugos Sicht in den Stein eingeschrieben

Der Roman von 1831 heißt im Französischen schlicht „Notre-Dame de Paris“. Die Kathedrale ist einerseits Schauplatz der (Nicht-)Beziehung von gleich vier Männern zu Esmeralda (des fiktiven Erzählers, also des Dichter Pierre Gringoire, des buckligen Glöckners Quasimodo, des Archidiakons Claude Frollo und des Hauptmann Phoebus). Sie wird bei Hugo aber auch zur Reflexionsfläche über das Verhältnis von Beständigem und Veränderung. Seine Gedanken dazu leitet er mit einer Romanszene ein: Im ersten Kapitel des fünften Buches bekommt der Archidiakon Frollo Besuch von dem ihm bekannten Leibarzt Ludwigs XI und einem Unbekannten, der sich später als der König höchstselbst zu erkennen gibt. Das Gespräch kommt irgendwann auf die Macht der Bücher – die Erzählzeit liegt Ende des 15. Jahrhunderts, also kurz nach Erfindung des Buchdrucks. Der Archidiakon legt eine Hand auf ein geöffnetes Buch, weist mit der anderen aus dem Fenster auf die Silhouette von Notre-Dame und sagt: „Ceci tuera cela – Dieses hier wird das dort zerstören.“ Das Buch wird die Kathedrale zerstören.

Die darauffolgenden Kapitel interpretieren diesen Satz (also sich selbst) in einem eingeschobenen Essay: Der Buchdruck gefährdet natürlich die mittelalterliche Kirche als Institution, zuerst durch die Reformation. Hugo meint aber auch: Der Buchdruck zerstört die Architektur als Kunstform, indem er sie als dominante Ausdrucksform des Menschen ablöst. Das Wort löst den Stein ab. Die sakrale Architektur als Kunstform liest er dabei als Ausdruck des Konservatismus der Institution: alles an der Kirchenarchitektur atme die „Furcht vor dem Fortschritt, die Unveränderlichkeit ...“ Die Haltung der Kirche zur Welt war aus Hugos Sicht gewissermaßen in den Stein eingeschrieben – mit dem Niedergang der Institution und ihrer Gedanken werde dadurch auch die Architektur ihres Sinns entleert.

Notre-Dame fasziniert in ihrer scheinbaren Unveränderlichkeit

In dem Essay steckt ein guter Schuss romantische Nostalgie. So sehr Hugo die Statik der sakralen Architektur (und der Gedanken, für die sie steht) ablehnt, so sehr schreckt ihn die Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit der Welt der Ideen und Werte, die der Buchdruck schafft. Mit dem Buchdruck, so Hugo, sei das menschliche Gedankengut sowohl flüchtiger als auch unsterblich geworden. Die Kathedrale als steingewordene Idee von der Welt steht jahrhundertelang da. Im Zeitalter des Buchdrucks sei das menschliche Denken wie ein Schwarm Vögel: Die Gedanken stöben in alle Richtungen davon – und sie besetzen doch gleichzeitig jeden einzelnen Punkt am Himmel. Sie sind so beweglich wie allgegenwärtig – und unsterblich in ihrer Reproduzierbarkeit. An einer anderen Stelle vergleicht er den Buchdruck mit einer „gigantischen Maschine“, die „ohne Unterlass“ den menschliche Gedanken durch die Gesellschaft pumpt und Neues „erbricht“.

Eine weitere Kulturrevolution später ist dieses Gefühl beim Anblick der Kathedrale Notre-Dame potenziert: Sie fasziniert in ihrer scheinbaren Unveränderlichkeit, ist für viele aber auch seltsam entleert. Wer versteht schon noch die Bedeutung der sakralen Gegenstände, Bilder, Reliquien? Gleichzeitig haben sich die Flüchtigkeit und Allgegenwart von Gedanken und Bedeutungen mit dem Internet potenziert. Die Trauer über die Teilzerstörung von Notre Dame ist Hugo ganz nah: Das Hadern mit dem Fortschritt führt zu Sehnsucht nach Beständigkeit, doch letztlich können auch die Symbole der Beständigkeit der dauerhaften Veränderung nicht entrinnen, denn es ändert sich ihre Bedeutung.

Selbst das romantische Sehnen nach Vergangenheit und Beständigkeit verändert die Welt: Hugos Roman lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf die Kathedrale, die zu seiner Zeit in einem ziemlich schlechten Zustand war. Das erzeugte politischen Druck und setzte Restaurationsarbeiten in Gang. Und die Sehnsucht, die sich in der Trauer über den Brand ausdrücken mag, könnte sie ein weiteres Mal retten.

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