Cannes Journal (7): Die Moral von der Geschichte
Endspurt im Palmen-Rennen: neue Filme von Pedro Almodóvar, Xavier Dolan und den Dardenne-Brüdern in Cannes.
Die Redaktionen der Branchenmagazine „Variety“, „Screen“ und „Hollywood Reporter“ sind als Erste weg. Tag für Tag hatten ihre frisch gedruckten Hefte überall ausgelegen – und nun? Wie auf ein geheimes Zeichen sind sie verschwunden und mahnen die übrigen Festivaliers, dass auch ihres dienstlichen Bleibens unter südlicher Sonne nicht ewig ist. Oh, süße Melancholie des zweiten Cannes-Donnerstags!
Andererseits sind auch für den Endspurt im Wettbewerbsmarathon noch cineastische Top-Athleten angekündigt, die der deutschen Überraschungsfavoritin Maren Ade mit "Toni Erdmann" das Rennen schwer machen könnten. Sean Penn schickt sein afrikanisches NGO-Drama „The Last Face“ auf die Piste, und Asghar Farhadi („Nader und Simin“) ist mit der Teheraner Beziehungsgeschichte „Forushande“ am Start. Auch Nicolas Winding Refn, weltberühmt seit „Drive“, und Paul Verhoeven, weltberühmt seit „Robocop“ und weltberüchtigt seit „Showgirls“, sind vielleicht für goldene Palmen, mindestens aber für glitzernde Kinoereignisse gebucht.
Für das Wunderkinder Xavier Dolan gab's nur Plätscherapplaus
Nun ziehen große Namen nicht unbedingt stets große Werke nach sich, nicht einmal in Cannes. Nach den Buhs für Olivier Assayas’ „Personal Shopper“ gab es für „Juste la fin du monde“ des inzwischen 27-jährigen Wunderkinds Xavier Dolan bei der Pressevorführung das zweitempfindlichste Echo: sekundenkurzen Plätscherapplaus. Vor zwei Jahren hatte sich der ehrgeizige Frankokanadier mit „Mommy“ in den Wettbewerb hochgepoltert. Ob es auch diesmal für den Jurypreis reicht?
Dolan versammelt ein Starquintett zu einem reichlich hysterischen Familientreffen. Nathalie Baye als Mutter und Vincent Cassel sowie Léa Seydoux als ihre Kinder übernehmen den nervtötend lauten Part, Marion Cotillard spielt eine schüchterne Schwiegertochter, und Gaspard Ulliel mimt den nach zwölf Jahren heimgekehrten verlorenen mittleren Sohn. Der junge schwule Schriftsteller will die Familie über sein nahendes Ableben informieren. Aber wie soll das gelingen, bei diesem Haufen von Egomanics?
Was wohl ein bewegendes Drama hätte werden sollen, gerät hier zur schrillen Stilübung, die von Anfang an heftig auf der Stelle tritt. Auch Pedro Almodóvar hat mit „Julieta“ gewiss eine sensible Charakterstudie vorgeschwebt, mit Emma Suárez und Adriana Ugarte in zwei Lebensaltern der Titelfigur. Julieta kann sich die abrupte Loslösung der heranwachsenden Tochter nicht erklären und zerbricht nahezu am zwölf Jahre währenden Kontaktabbruch. Unterwegs nimmt allerdings auch der Film einigen Schaden – ein bloßes Ausstattungsstück, dem allerhand fraglos bedauerliche Schicksalsschläge verzweifelt Wucht zu verleihen suchen.
Die Dardenne-Brüder und der Rumäne Mungiu haben Chancen, etwas zu gewinnen
Wenn Darsteller Gefühle (aus-)spielen, für die das Drehbuch kaum Konfliktsubstanz bietet, ist die Fremdscham nicht fern. Wie schön, wenn Regisseure umgekehrt vorgehen und ihre Figuren in aller Gefasstheit durch eine emotionale Hölle treiben. Die belgischen Dardenne-Brüder und der Rumäne Cristian Mungiu, längst Palmen-Gewinner, mögen mit ihren neuen Filmen nicht das Äußerste an Erschütterung ausgelöst haben, spannend aber sind ihre im Ärztemilieu spielenden moralischen Alltagsdramen allemal.
In „La fille inconnue“ der Dardennes versäumt es die Ärztin Jenny (Adèle Haenel), eine nach der abendlichen Praxisschließung panisch hilfesuchende junge Schwarze einzulassen. Als das Mädchen danach am Kanalufer verblutet, begibt sich die von Schuldgefühlen getriebene und nun auf eigene Faust die Todesumstände recherchierende Jenny selber in Lebensgefahr. Und Mungiu verstrickt in „Bacalaureat“ einen aufrechten Krankenhausarzt (Adrian Titieni), der seine Tochter (Maria Dragus) um jeden Preis zum Studium nach England schicken will, in ein Geflecht aus Gefälligkeiten, Abhängigkeiten und Korruption – und stellt Rumänien ein fast so finsteres Zeugnis aus wie vor ein paar Tagen Brillante Mendoza seiner eigenen Heimat, den Philippinen.
Schmerzhaft sind sie, klar und inspirierend: Von diesen Filmen dürfte am Palmensonntagabend noch zu reden sein.